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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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obendrein hatte ich keine Ahnung, welches Entgelt man mir böte. Also betrachtete ich die Balmacaans, Surtouts, Dolmane und Wämser aus Seidenbatist, Matelasse und hundert anderen teuren Tuchen, ohne je die Geschäfte hinter den Auslagen zu betreten oder zum näheren Begutachten innezuhalten.
    Bald erlag ich der Lockung anderer Waren. Zwar wußte ich damals noch nichts darüber, aber Tausende von Söldnern statteten sich gerade für den Sommerfeldzug aus. Es waren strahlende Soldatenröcke und Satteldecken zu sehen, Sättel mit gepanzerten Knöpfen zum Schutz der Lenden, rote Feldmützen, Stiefel mit hohen Schäften, Fächer aus Silberfolie zum Signalgeben, einfach und mehrfach geschwungene Bögen für die Reiterei, Pfeile in Bündeln zu zehn und zwanzig, Köcher aus ausgekochtem Leder mit goldenen Zierbeschlägen und Perlmutteinlagen und Handschützer zur Sicherung der Linken des Schützen vor der Sehne. Beim Anblick dieser Dinge fiel mir ein, was Meister Palaemon vor meiner Maskierung über den Ruf der Trommeln gesagt hatte; und obwohl ich die Troßknechte der Zitadelle recht verachtete, war mir, als hörte ich den langen Namensaufruf zum Appell und helle Trompeten auf dem Schlachtfeld zum Sturm blasen.
    Als ich gerade völlig von meiner Suche abgekommen war, trat aus einem der dunklen Läden eine schlanke Frau um die Zwanzig, um das Gitter zu öffnen. Sie trug ein grünblau schillerndes Brokatgewand, das unglaublich prächtig und zerlumpt war. Während ich sie beobachtete, fiel Sonnenlicht auf einen Riß unter ihrer Taille und verwandelte die Haut dort in hellstes Gold.
    Das Verlangen nach ihr, das ich damals und hinfort verspürt habe, kann ich nicht erklären. Von den vielen Frauen, denen ich begegnet bin, ist sie vielleicht die am wenigsten schöne – weniger anmutig als sie, die ich am meisten geliebt, weniger sinnlich als eine andere, bei weitem nicht so majestätisch wie Thecla. Sie war von durchschnittlicher Größe, hatte eine kurze Nase, breite Wangenknochen und die spitz zulaufenden braunen Augen, die oft damit einhergehen. Ich sah zu, wie sie das Gitter hochschob und liebte sie mit einer Liebe, die tödlich und doch nicht ernst war.
    Natürlich ging ich zu ihr. Ich hätte ihr genausowenig widerstehen können wie der blinden Gier der Urth, wenn ich über eine Klippe stürzte. Ich wußte nicht, was ich ihr sagen sollte, und hatte schreckliche Angst davor, daß sie beim Anblick meines Schwertes und schwarzen Mantels entsetzt zurückführe. Aber sie lächelte und schien von meinem Äußeren wirklich angetan. Da ich nicht sofort etwas sagte, fragte sie, was ich wünsche; und ich fragte sie, ob sie wisse, wo ich einen Mantel kaufen könnte.
    »Brauchst du denn überhaupt einen?« Ihre Stimme war tiefer, als ich erwartet hatte. »Du hast einen so hübschen an. Darf ich ihn anfassen?«
    »Bitte, wenn du willst.«
    Sie bückte sich nach dem Saum und rieb den Stoff sanft zwischen ihren Handflächen. »Hab' noch nie ein solches Schwarz gesehen – 's ist so dunkel, daß man gar keine Falten erkennt. Möchte meinen, meine Hand war' verschwunden. Und dieses Schwert. Ist das ein Opal?«
    »Möchtest du das auch anfassen?«
    »Nein, nein, wirklich nicht. Aber wenn du tatsächlich einen Mantel willst...« Sie zeigte auf das Fenster, das gefüllt war mit allerlei getragenen Kleidungsstücken, darunter Burnusse, Umhänge, Kittel, Chitone und so weiter. »Sehr billig. Wirklich preiswert. Wenn du hineingehen wolltest, fändest du bestimmt etwas Passendes.« Ich trat durch eine klingelnde Tür ein, die junge Frau folgte mir (wie hatte ich darauf gehofft!) jedoch nicht.
    Drinnen war es düster, aber sobald ich mich umgeblickt hatte, verstand ich sehr wohl, warum mein Äußeres die Frau nicht beunruhigt hatte. Der Mann hinter dem Ladentisch war schreckerregender als jeder Folterer. Sein Gesicht war das eines Skeletts oder zumindest totenkopfähnlich, ein Gesicht mit dunklen Höhlen statt Augen, eingefallenen Wangen und lippenlosem Mund. Hätte er sich nicht bewegt oder gesprochen, hätte ich ihn keineswegs für einen Lebenden gehalten, sondern in ihm einen aufgrund des schauerlichen Willens eines Vorbesitzers hinter dem Ladentisch aufgerichteten Leichnam gesehen.

Die Herausforderung
    Doch er bewegte sich, wandte sich mir beim Hereinkommen zu; und sprach: »Sehr fein. Ja, sehr fein. Dein Mantel, Optimat – darf ich sehen?«
    Ich ging über einen abgenutzten, krummen Steinfußboden zu ihm hin. Ein Bündel roten

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