Der Schatten des Folterers
dem Regenbogen umgeschnürt, das Schlachthorn des Himmels. »Wohin des Weges, mein Kleiner?« fragte Gabriel. »Und warum ist deine Brust purpurn wie die eines Rotkehlchens?« – »Ich wurde getötet«, antwortete der Engel, »und kehre zurück, um meine Substanz wieder mit dem Pancreator zu vereinen.« – »Unsinn! Du bist ein Engel, ein reiner Geist, und kannst nicht sterben.« – »Dennoch«, entgegnete der Engel, »bin ich tot. Du hast mein Blut fließen sehen. Siehst du nicht, daß es nicht mehr stoßweise herausspritzt, sondern nur noch langsam hervorsickert? Sieh die Blässe meines Antlitzes. Ist die Berührung eines Engels nicht warm und klar? Nimm meine Hand, und du glaubst, ein aus einem abgestandenen Teich gezogenes Greuel zu halten. Rieche meinen Atem stinkt er nicht faulig und widerwärtig?« Gabriel erwiderte nichts, und der Engel sagte schließlich: »Bester Bruder, selbst wenn dich all meine Beweise nicht überzeugen, bitt' ich dich, zur Seite zu treten. Ich will das Universum von mir befreien.« – »Ich bin wirklich überzeugt«, versetzte Gabriel, dem andern aus dem Weg tretend. »Es ist nur, daß ich gedacht habe, falls ich darum gewußt hätte, daß wir vergehen, wäre ich nie so kühn gewesen.«
Zu Agia sagte ich: »Ich komme mir vor wie der Erzengel in der Erzählung – hätte ich gewußt, ich könnte mein Leben so leicht und rasch beenden, hätte ich's – wahrscheinlich – nicht getan. Kennst du die Legende? Nun habe ich jedoch meine Entschlüsse gefaßt, und es gibt hierzu nichts mehr zu sagen oder zu tun. Heute nachmittag wird der Septentrion mich – womit töten? Mit einer Pflanze? Einer Blume? Irgendwie verstehe ich nicht. Unlängst dachte ich, ich könnte an einen Ort namens Thrax gehen und das Leben führen, das sich mir dort böte. Nun, die letzte Nacht verbrachte ich bei einem Riesen. Das eine ist so bizarr wie das andere.«
Sie antwortete nicht; nach einer Weile fragte ich: »Was ist das für ein Gebäude dort drüben? Das mit dem zinnoberroten Dach und den gegabelten Säulen? Ist wohl frischgeriebener Nelkenpfeffer oder so etwas, was ich von dorther rieche.«
»Die Mensa der Mönche. Weißt du, daß du ein Krieger bist? Als du in unseren Laden kamst, hielt ich dich für einen jungen Waffenträger im Narrenkleid. Als ich dann feststellte, daß du ein Folterer bist, dachte ich, das sei eigentlich gar nicht so schlimm – daß du nur ein junger Mann wie viele andere seist.«
»Und du hast viele junge Männer gekannt, stelle ich mir vor.«
Offengestanden hoffte ich das. Ich wünschte sie mir erfahrener als ich; zwar betrachtete ich mich nicht einen Augenblick lang als rein, dennoch wünschte ich sie mir noch unreiner.
»Aber es ist doch mehr an dir. Du hast das Gesicht von einem, der zwei Grafschaften und irgendeine Insel in der Fremde erben wird, und die Manieren eines Schusters, und wenn du sagst, du fürchtest den Tod nicht, bist du davon überzeugt, weißt aber auch, daß du's nicht bist. Im Grunde bist du's. Es würde dir auch nicht das geringste ausmachen, mir den Kopf abzuhacken, nicht wahr?«
Um uns herum herrschte allerlei Verkehr: Maschinen; Gefährte mit und ohne Räder, von Tieren oder Sklaven gezogen; Fußgänger und Reiter auf dem Rücken von Dromedaren, Ochsen, Metamynodonten und Mietlingen. Nun setzte neben uns ein offener Fiaker wie unser eigener zum Überholen an. Agia beugte sich dem Paar zu, das darin reiste, und rief: »Wir sind schneller!«
»Bis wohin?« schrie der Mann zurück, und ich erkannte Sieur Racho, dem ich einst begegnet war, als ich zu Meister Ultan nach Büchern geschickt wurde.
Ich packte Agia am Arm. »Bist du verrückt – oder er?«
»Botanischer Garten, für einen Chrysos!«
Das andere Fahrzeug preschte los, dicht von uns gefolgt.
»Schneller!« feuerte Agia unseren Lohnkutscher an. Mich fragte sie:
»Hast du einen Dolch? Am besten setzt du ihm die Messerspitze ins Kreuz, so daß er sagen kann, er handelte unter Zwang, falls wir aufgehalten werden.«
»Warum tust du das?«
»Zur Probe. Keiner läßt sich durch deine Verkleidung täuschen. Alle halten dich für einen maskierten Waffenträger. Ich hab's gerade bewiesen.« (Wir umfuhren einen mit Sand beladenen Karren.)
»Außerdem werden wir gewinnen. Ich weiß, daß dieser Fahrer und sein Gespann frisch sind. Der andere hat diese Hure die halbe Nacht herumgeschleppt.«
Wie mir jetzt klar wurde, müßte ich Agia das Geld geben, falls wir gewönnen, und die andere Frau würde
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