Der Schatten des Horus
Lächelnd holte sie ihren iPod aus der Tasche. »Gegen quietschende Ägypter habe ich auch ein Gegenmittel«, sagte sie kichernd und zog die Decke über ihre Köpfe.
Sid schloss die Augen und genoss Rascals Nähe und ihren Geruch. Dazu die mal wütend krachigen, mal herzzerreißend melancholischen Lieder von Coldplay. Chris Martin schien genau zu wissen, wie es um seinen Beinahe-Namesvetter Sid Martins bestellt war. Eine Träne rollte über seine Wange. Er wusste nicht, ob vor Glück oder Verzweiflung.
Dann kam ein Bruch, ein älteres Album, wie Rascal erklärte. Jane’s Addictio n – Nothing’s Shocking. Konnte ihn noch irgendetwas schockieren? Er war von einem Fremden durch New York gehetzt worden, hatte das Herz eines Dämons eingepflanzt bekommen, war drei Tage in der Cheops-Pyramide eingeschlossen gewesen und im schlimmsten Knast des Landes gefangen und fast umgebracht worden. Nein, ihn konnte nichts mehr schocken. Das nächste Lied belehrte Sid eines Besseren: I had a dad, he was big and strong. I turned around and I saw my daddy gone.
»So ging’s mir auch«, flüsterte Sid. Er wusste nicht, ob Rascal ihn hören konnte oder ob sie schlief. »Als ich klein war, war Daddy mein Held. Unendlich groß und unendlich stark. Nichts und niemand konnte ihn besiegen, an seiner Seite fühlte ich mich geborgen. Aber je größer ich wurde, desto kleiner wurde er. Jetzt kann er unter meiner Schuhsohle hindurchlaufen, ohne sich bücken zu müssen.« Sid seufzte.
Ich möchte ihn zertreten.
46. Kapitel
Luxor, Mittwoch, 31 . Oktober 2007, 2 3 Uhr
Die brutale Hitze des Tages hatte nachgelassen. Die Schwärme von Touristen, die regelmäßig über die Stadt herfielen wie die Heuschrecken in biblischen Zeiten, waren verschwunden. Die Straßen gehörten nun für wenige Stunden wieder den Einheimischen. Bis zum Morgengrauen waren sie nicht mehr Kameltreiber und Führer, Nippes-Verkäufer oder Kutscher, sondern Menschen. Die Frauen hockten in den Küchen und Cafés zusammen, die Männer führten ihre goldenen Ringe spazieren. Ein Häppchen essen, ein Gläschen shai trinken, den süßlichen Tabak der schischa entzünden, und, wenn Allah durch den dicken Rauch die Gesichter nicht mehr genau sehen konnte, auch mal ein Gläschen Wein genießen, oder Stärkeres.
Birger Jacobsen saß mit vier Männern am Tisch im Hinterzimmer der Cafeteria El Karnak , einer schäbigen Bretterbude, die morgen schon wieder anders heißen würde, wenn die Haupteinnahmequelle dieses Etablissements aufflog. Sie hatten den Abend mit Taula begonnen, der orientalischen Version von Backgammon, und in Birger Jacobsens Tasche knisterten bereits beachtliche Bündel von Pfundscheinen. Seit er einmal beim Spielen beschissen worden war, ließ er sich gewonnene Beträge immer sofort auszahlen, sosehr seine Opfer auch klagten. Jetzt waren sie bei Vierzehn angekommen, dem mysteriösen Spiel, dessen Regeln kaum ein Nichtaraber verstand. Birger Jacobsen starrte auf sein Blatt. Die Karten waren gut. Er spielte nicht, um Geld zu gewinnen, es hatte für ihn keinerlei Bedeutung. Er war auf der Suche nach dem perfekten Spiel, wollte die Züge seiner Partner am Tisch vorausahnen, in ihre Köpfe kriechen, um unfehlbar berechnen zu können, welche Karte sich wo befand. Das Spiel aus fünf Perspektiven betrachten und Recht haben. Wenn er sich konzentrierte, war er schon nahe dran am Optimum.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, herein ka m … Birger Jacobsen verschluckte sich an seinem Wasser. Zur Tür herein kam Anton Blomberg! Anton Blomberg, der Mann, der ihn vor beinahe dreißig Jahren unter seine Fittiche genommen und in den Seth-Kult eingeführt hatte! Er schien seit 1979 kein bisschen gealtert zu sein. Aber Blomberg war tot – das konnte nich t …
Birger Jacobsen kniff die Augen zusammen und schüttelte sich. Der Nebel der Verblendung verzog sich aus seinem Kopf wie der Rauch der Wasserpfeifen aus dem Türspalt. Ein Kellner in einem fleckigen Hemd brachte eine weitere Runde Whiskey. Entnervt lehnte Birger Jacobsen das Getränk ab und blies seine Lunge leer. Wie oft schon hatte er geglaubt, Anton Blomberg wiederzusehen. In der U-Bahn in New York, im Zita-Programmkino in Stockholm, in einem Nachtklub in Oslo oder einfach irgendwo auf der Straße, im Gedränge oder auf freier Flur. Anfangs war er noch hinter den Trugbildern hergehastet, hatte sie herumgerissen, um dann in die Augen eines Fremden zu blicken. Bitterkeit und Enttäuschung hatten diese Begegnungen
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