Der Schatten des Schwans
Ulmer haben doch alle ihr eigenes Häuschen. Mit Einliegerwohnung, damit sie mehr von der Steuer absetzen können. Was weißt du denn, was die Leute sich da drin alles halten.«
»Ich hab’ keins«, sagte Berndorf. »Drei Zimmer sauber machen reicht ja auch. Trotzdem hast du wahrscheinlich Recht. Vermutlich hat irgendwer in dieser Stadt den Mann, der jetzt tot ist, aufgenommen und beherbergt. Und umgebracht. Und er hat das dann ganz sicher nicht in einem Wohnblock getan, in dem die Nachbarin oder die Türkenkinder alles sehen, vor allem einen halb oder ganz toten Menschen, den man das Treppenhaus hinunterbringen muss. Und es müsste ein Haus sein mit Zugang zu einer geräumigen Garage, die einem allein gehört. In der man einen fremden Toyota abstellen kann, ohne dass es jemand auffällt.«
»Keine armen Leute also«, stellte Barbara fest. »Aber warum sollte so jemand einen Menschen umbringen, von dem niemand etwas will? Jedenfalls kein Arbeitgeber und keine Frau, wenn ich dich recht verstanden habe. War der Gute vielleicht in Erpressungsgeschäften unterwegs? Hat er« – Barbaras Stimme klang plötzlich fasziniert – »womöglich zu einer finsteren Stasi-Connection gehört, die von der Normannenstraße direkt nach Ulm führt?«
»Tja«, sagte Berndorf. Manchmal nahm ihn Barbara ein wenig auf den Arm. »Wir haben sogar an so etwas gedacht. Aber bei der Gauck-Behörde liegt nichts über Tiefenbach vor. Und: Er war Bahningenieur. Glaubst du wirklich, Markus Wolff hat einen Maulwurf in der Bundesbahndirektion gehabt? Was sollte der dort? Die notorischen Verspätungen der Bundesbahn ausforschen?«
»Das hätte der Stasi sogar durchaus ähnlich gesehen«, meinte Barbara.
Der Mann, der vom Bahnsteig 15 des Münchner Hauptbahnhofs in den ICE nach Frankfurt stieg, zögerte kurz, als er den aluminiumglänzenden Zug sah. Es war ihm nicht klar gewesen, wie viel sich seit den 70er-Jahren geändert hatte. Er würde noch vorsichtiger sein müssen. Die Leute durften nicht merken, wie unsicher er in vielen Dingen war.
Der Abendzug war nicht voll besetzt, und er fand ein leeres Abteil. Er verstaute den Vuitton-Koffer und löschte die Deckenbeleuchtung. Dann setzte er sich und lehnte sich zurück. Die Magenschmerzen waren weg. Er stellte sich vor, Hannah säße ihm gegenüber und er würde ihr bei der Fahrt die Landschaft erklären und die Städte, an denen sie vorbeikamen.
Langsam und lautlos setzte sich der Zug in Bewegung.
Die Stimme sang »When my dreamboat comes home«, kurzatmig und fröhlich über die Synkopen hüpfend. Berndorf hatte sich einen zweiten Whisky erlaubt. Er stand am Fenster und tippte mit den Fingerspitzen den Takt auf die Fensterbank. Für einen Augenblick fühlte er sich glücklich und übermütig. Zu übermütig für melancholische Tangos. Also hatte er eine CD von Fats Domino aufgelegt. Denn es war ein besonderer Abend. Barbara hatte angerufen. Und sie hatten sogar über einen gemeinsamen Urlaub gesprochen. Vielleicht im Frühjahr, vielleicht im Alentejo.
Tief unten ruckelte der letzte Nahverkehrszug nach Heidenheim vorbei, und das kalkweiße Licht der leeren Zugabteils ließ den fahlen halben Mond allein in der Nacht zurück. Ach ja, dachte Berndorf und trank aus. Der Whisky lockerte seine inneren Filmbilder. Als er das Glas zurückstellte, war es ihm, als rollten in seinem Kopf die Zugräder weiter und weiter.
Berndorf überlegte. Er hatte doch gerade eben einen Zug vor Augen gehabt. Er hatte ihn im Mondlicht vor Augen gehabt und doch nicht gesehen. Der Mond. Der Zug. »Er ist nur halb zu seh’n, und ist doch rund und schön«, murmelte er vor sich hin. Plötzlich griffen die Räder in Berndorfs Kopf.
Eisenbahnwaggons sind dazu da, dass man darin etwas transportiert. Erstens.
Was transportiert wird, kann man sehen. Zweitens. Oder auch nicht. Drittens.
Und zwar je nachdem, wie die Waggons konstruiert sind. »I’m gonna be a wheel someday« sang Fats.
Mittwoch, 28. Januar, 9 Uhr
Der Morgen war frisch und klar. In der kleinen Pension im Frankfurter Nordend frühstückte Heinz Neumann aus Kassel, wie der neue Gast sich am Vorabend eingetragen hatte. Wegen seines empfindlichen Magens bat er um einen Kräutertee. In der »Rundschau« stand nichts über den Ausbruch eines Strafgefangenen aus einer württembergischen JVA. Er legte die Zeitung weg und bat an der Rezeption um seine Rechnung. Seine Koffer würde er später holen. Im Oeder Weg kam er an einem Friseursalon vorbei, der so
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