Der Schatten des Schwans
früh noch keine Kundschaft hatte. Als Thalmann sich die Haare waschen und schneiden ließ, war es ihm, als spüle ihm der Friseur den ganzen Dreck und Mief der Anstalt Mariazell vom Kopf.
Vom Neuen Bau aus rief Berndorf den Inspektionsleiter der Bahnhofswache im Stuttgarter Hauptbahnhof an. Der Mann hieß Wasmer, Berndorf kannte ihn noch aus der Zeit, als die Bahnpolizei noch nicht im Bundesgrenzschutz aufgegangen war. Wenn sie miteinander zu tun hatten, dann meist, weil sich irgendwo zwischen Stuttgart und Ulm ein Mensch auf die Gleise gelegt hatte. Oder gelegt worden war.
»Nicht schon wieder«, sagte Wasmer.
»Keine Sorge. Ich will bloß eine Auskunft. Was wird mit Zügen geschmuggelt?«
»Alles. Fast alles«, antwortete Wasmer. »Neuerdings sind es oft Menschen. Bei Waffen und Rauschgift ist das finanzielle Risiko zu hoch.«
»Weil ihr zu gut seid?«
»Du sagst es«, erwiderte Wasmer.
»Und wieso seid ihr es bei Menschen nicht?«
»Da sind wir es auch«, erklärte Wasmer würdig. »Aber du hast mich nicht verstanden. Es geht um das finanzielle Risiko. Wer Waffen oder Rauschgift mit der Eisenbahn schmuggeln will, riskiert eigenes Geld. Wer Menschen mit dem Zug einschleusen will, riskiert nur deren Geld. Gezahlt wird in der Branche mit Vorauskasse.«
»Sind dir schon Waggons untergekommen, die speziell für diesen Zweck umgebaut waren?«
Wasmer schwieg. »Du musst da einen komischen Fall haben«, sagte er dann.
»Ich habe jemand, der so etwas planen könnte«, erklärte Berndorf. »Nur, dass der Mann jetzt tot ist.«
»Meist verstecken sich die Leute zwischen den Kabelschächten unterhalb der Waggons«, sagte Wasmer. »Sie kommen dann halb erfroren und fast erstickt hier an. Aber dass man Waggons umbaut, um Menschen einzuschleusen ...«, Wasmer überlegte. »Möglich wäre das schon, wenn auch aufwendig. Man könnte Deckenverkleidungen niedriger legen. Oder Hohlräume zwischen den Abteilen einrichten. Erlebt habe ich es noch nicht.« Nach einer Pause fügte er hinzu, dass er sich die Züge, die dafür in Frage kämen, doch einmal genauer ansehen werde: »Willst du dabei sein?«
»Nicht unbedingt. Aber wenn ihr etwas findet, will ich’s mir ansehen.« Dann legte Berndorf auf.
Tamar kam ins Zimmer, hell und strahlend wie ein Morgen im Mai. Berndorf sah es mit gemischten Gefühlen. »Ihr Schachfreund aus Ravensburg hat angerufen, aber bei Ihnen war belegt«, sagte sie. Kriminalhauptkommissar Kastner spielte am siebten Brett in der Bezirksliga-Mannschaft des
Polizeisportvereins Capablanca Ulm-Oberschwaben, in der Berndorf gelegentlich aushalf. Berndorf nahm den Hörer auf und wählte. Aber diesmal war es Kastner, der telefonierte.
In der B-Ebene der U-Bahn-Haltestelle Eschersheimer Tor war ein großer Stadtplan ausgehängt. Nach kurzem Suchen fand Thalmann die Eppsteiner Straße. Sie war im Frankfurter Westend, auf einen Blick sah er, dass er bequem zu Fuß dorthin kam. Der Weg führte durch eine Grünanlage, an kahlen Bäumen und Gesträuch vorbei. Auf einem kleinen Teich schwamm missmutig ein Schwan mit grau geflecktem Gefieder.
Und doch hatte Thalmann das Gefühl, als habe sich in seiner Brust etwas gelöst. Er ging, wohin er gehen wollte. Und er nahm dazu den Weg, der ihm gerade gefiel. So, als ob das die einfachste Sache der Welt sei. Das war es aber nicht. Auch wenn die Leute, die außerhalb des Knasts leben, das nicht wissen können. Aber was wissen diese Leute schon.
Kriminalrat Englin hatte wieder das »Tagblatt« vor sich liegen, aus dem sich an diesem Morgen Blochers Konterfei selbstzufrieden und angriffslustig dem Betrachter entgegenreckte. In einem mehrspaltigen Interview hatte sich Blocher über den zunehmenden Drogenkonsum Jugendlicher und über die Notwendigkeit äußern dürfen, »diesem schleichenden Übel auch mit unkonventionellen Mitteln das Handwerk zu legen«. Der reale Blocher, der neben Englin saß, schaute allerdings weniger selbstzufrieden als vielmehr mit gekränkter Eitelkeit in die Runde, fand Berndorf.
»Da sehen Sie es, Kollege«, sagte er zu Berndorf: »Sogar das Tagblatt hat sich für das entschuldigt, was ich Ihrer Ansicht nach einfach hätten schlucken sollen.«
»Schön für Sie«, sagte Berndorf. Englin bat um einen Bericht im Fall Tiefenbach. Berndorf hatte nicht viel mitzuteilen.
»Das ist ein wenig dürftig, finden Sie nicht?«, meinte Englin. Dann wollte er wissen, warum es im »Tagblatt« heiße, der Blausteiner Tote habe vermutlich
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