Der Schatten des Schwans
überlebt?«, wollte Tamar wissen.
»Ja«, sagte Markert. »Es hat einen Schnitt am Hals abbekommen. Aber die Ärzte haben es retten können.«
»Im Verhör gab Thalmann an, er habe bei dem Mädchen keine Kraft mehr gehabt«, sagte Berndorf und drehte sich um. »Er sei plötzlich leer gewesen. Wie ausgeblutet.«
»Als Erstes müssen wir das Mädchen finden«, meinte Tamar.
»Ich glaube, sie hieß Hannah«, sagte Markert. »Sie muss heute 22 oder 23 Jahre alt sein. Aber nach allem, was war, wird sie kaum in Ulm leben.« Sie werde sich darum kümmern, versprach Tamar.
»Fragen Sie doch mal die Mühlbauer, die hat sich damals um das Kind gekümmert«, schlug Markert vor. Sabine Mühlbauer arbeitete im Jugendschutz-Dezernat. Tamar machte sich auf den Weg.
Berndorf rief noch einmal in Ravensburg an. Diesmal kam er durch. »Du weißt es schon?«, fragte Kastner zur Begrüßung. »Dieser Thalmann ist abgehauen.«
»Hier erzählen sie irgendeinen Stuss von einer Meuterei«, sagte Berndorf.
»Ach, Scheiße!«, antwortete Kastner ärgerlich. »Einer von den Werkmeistern in Mariazell säuft sich zu Tode, und als er umfällt, bricht die große Panik aus, und Thalmann schmuggelt sich derweil in einer Sitztruhe aus dem Knast. In einer Sitztruhe, hast du so etwas schon einmal gehört? Irgendwas stimmt da nicht. Die Sitztruhe wird einem Tettnanger Zahnarzt geliefert, und wie sie ausgeliefert ist, springt der Thalmann aus der Truhe, nimmt die Zahnarztgattin und eine Innenarchitektin als Geiseln und haut mit den beiden ab.«
»Und jetzt?«
»Die beiden Frauen sind gestern Abend halb erfroren und mit aufgeschürften Füßen auf einer Landstraße bei Fürstenfeldbruck von einem Bauern aufgesammelt worden, Thalmann hatte sie im Wald ausgesetzt und ihnen ihre Schuhe weggenommen. Den Wagen der einen haben die Fürstenfeldbrucker Kollegen heute Nacht vor dem S-Bahnhof gefunden. Da war Thalmann längst in München.«
»Hat er den Frauen Geld abgenommen?« »Nein. Eigentlich komisch.«
»Find’ ich auch«, sagte Berndorf.
»Wann kommst du zu einer Partie Schach? Lisa würde sich freuen.«
»Wenn ich hier klarer sehe«, sagte Berndorf.
Plötzlich ging es sehr schnell. Die Sekretärin bat Thalmann in ein großes Zimmer mit schweren Vorhängen vor den hohen Fenstern. Zürns Anwalt war ein älterer, massiger Mann mit fast kahlem Schädel, über den die wenigen verbliebenen Haarsträhnen quer gekämmt waren. Er hatte dunkle, neugierige Augen, die Thalmann ohne jede Scheu von oben bis unten musterten. »Sie sind Herr Neumann, Herr Heinz Neumann«, sagte er dann. »Dabei belassen wir es auch. Und Sie kommen von Herrn Zürn. Falls Herr Zürn ein Mandant von
mir ist, erklären Sie mir jetzt, warum ich mit Ihnen verhandeln sollte.« Diesen Ton ertrage ich nicht, nicht sehr lange, dachte Thalmann. »Hannah«, sagte er dann. »Das Kennwort heißt Hannah. Mit ›h‹ wie Heinrich am Ende. Übrigens haben wir nichts zu verhandeln.« Er hob seinen Blick und sah dem Anwalt reglos in die Augen.
»Sicher, wir haben nichts zu verhandeln«, sagte dieser und wandte den Blick ab, »die Anweisungen sind klar. Ihre von mir treuhänderisch verwalteten Honoraranteile wiesen zum Jahresende nach Abzug der von der Auftraggeberseite gewünschten Überweisungen ein Guthaben von 43 577 Mark auf. Da die Gelder sehr kurzfristig flüssig zu machen waren, ergibt sich ein Abschlag von drei Prozent. Ich weise darauf hin, dass der Zeitpunkt der Abwicklung nicht von mir zu verantworten ist. Sie erhalten von mir keine Abrechnung, ich erhalte von Ihnen keine Quittung. Meine Sekretärin wird Ihnen den Schlüssel zu Ihrem Schließfach im Hauptbahnhof geben.«
Der Anwalt stand auf. »Ich wünsche Ihnen einen guten Tag. Sie sind nie hier gewesen.«
Mittwoch, 28. Januar, 11 Uhr
Thalmann war 1981 verurteilt worden; sein Verteidiger war damals der Ulmer Rechtsanwalt Hans-Martin Halberg. Noch heute erinnerte sich Berndorf an das Plädoyer und daran, wie Halberg dem Schwurgericht zu erklären versucht hatte, Thalmanns Seele sei »in der tiefsten Nacht der Verzweiflung« gefangen. Gauggenrieder, der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer, hatte nur kurz mit den Augenbrauen gezuckt, als das Wort von der »tiefsten Nacht« fiel. Berndorf hatte damals sofort gewusst, dass damit das letzte Fenster eines Verständnisses für Thalmann zugefallen war.
Halbergs Kanzlei befand sich in einem alten, im Krieg unzerstört
gebliebenen Bürgerhaus am Judenhof; die Büroräume
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