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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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erreichte man über einen mächtigen Treppenaufgang mit alten Eichenbohlen. Halberg trug das Haar noch immer kurz geschnitten und in die Stirn gekämmt, aber es war weiß geworden. Man erlebte Halberg nur noch selten vor Gericht, und fast nie vor einer der Großen Strafkammern. Das eine oder andere Mal hatte die Polizei sich um den Anwalt kümmern müssen, weil einer der Jungen rabiat geworden war, die Halberg auf dem Hauptbahnhof aufzulesen pflegte.
    »Da haben wir aber wirklich die Ehre«, sagte er, erhob sich hinter seinem breit ausladenden leeren Schreibtisch und kam Berndorf entgegen. »Der Chef der Mordkommission!« Er schüttelte ihm die Hand. »Unsere Mandanten kommen heutzutage eher selten oder gar nicht mit Ihnen in Berührung – zum Glück für sie.«
    »Sie erinnern sich an Thalmann, Wolfgang Thalmann?«, fragte Berndorf unvermittelt. Er hatte keine Lust, über Halbergs nicht mehr vorhandene Klientel zu plaudern. »Sie haben ihn vor 17 Jahren verteidigt.«
    Halberg hatte sich gesetzt. Plötzlich sah er noch älter aus. »Ja doch. Sicher erinnere ich mich. Das ist nicht so leicht zu vergessen.« Er zögerte. »Hat man ihn entlassen?« Unsicherheit klang in seiner Stimme.
    »Nein«, sagte Berndorf. »Entlassen hat man ihn nicht. Er selbst hat es getan.«
    Halberg verstand nicht. Berndorf erklärte es ihm. »Und jetzt wüssten wir gerne, ob Thalmann Anlaufstellen hat, die er aufsuchen könnte. Und ob jemand in Gefahr ist. Beispielsweise die Tochter.«
    Halberg schwieg lange. »Thalmann hat den Kontakt zu mir nach dem Urteil abgebrochen. Er hat sich auch in der Frage einer Revision nicht von mir beraten lassen wollen. Es wurde dann auch keine eingelegt.«
    »Hätten Sie denn einen Ansatzpunkt gesehen?«
    »Wenn ich ehrlich bin: nein«, antwortete der Anwalt. »Wir
hätten bei der Frage eines psychiatrischen Gutachtens ansetzen müssen. Aber genau das wollte Thalmann nicht. Er war ein äußerst schwieriger Mandant.«
    »Kennen Sie den egozentrischen Typus?«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Menschen, die ausschließlich ichbezogen sind? Deren Welt eine einzige Bühne ist, auf der sie – und nur sie – die immerwährende Hauptrolle spielen? Kennen Sie die hinreißende Mutter, die sich für ihr Kind aufopfert, damit dieses Kind sein ganzes Leben lang um die Mutter kreisen wird? Kennen Sie den unermüdlichen Kollegen, der nichts für sich und alles für die Sache tut, weil alles, was schwierig ist und undankbar, nur ihm anvertraut werden kann?«
    Der Anwalt machte eine Pause. »Thalmann war so jemand. Der verantwortungsbewusste Kollege, vorausblickend, als erster im Betrieb mit neuen Technologien vertraut. Zu Hause der perfekte Familienvater. Ernährungsbewusst. Jemand, der noch selbst einkauft, weil die Frau es nicht richtig versteht. Der abends heimkommt und sagt, jetzt freut sich aber das kleine Mädchen. Ja. Und irgendwann tritt der Juniorchef in den Betrieb ein und wird ihm vor die Nase gesetzt. Und die Frau fängt an, als Verkäuferin halbtags zu arbeiten, weil sie auch jemand sein will. Und dann schluckt man Pillen, gegen den Stress, gegen die Erbitterung über die ›Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist‹, aber die Welt geht trotzdem aus den Fugen, immer mehr, die Frau will sich von ihm trennen, warum tut sie ihm das an, natürlich tut sie es, weil man sie dazu abgerichtet hat, weil es zum üblen Spiel gehört, das die Welt mit ihm treibt, mit ihm und seinem Kind, aber das Kind wird niemand bekommen, es ist das Pfand, mit dem er die Welt ins Unrecht setzen wird! Entschuldigung ...«, Halberg unterbrach sich, »ich bin ins Plädieren gekommen.«
    »Ich höre Ihre Plädoyers gern«, sagte Berndorf höflich.
    »Aber Sie wollen wissen, wen Thalmann aufsuchen wird«,
antwortete Halberg. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob und wem Gefahr droht. Noch in der Untersuchungshaft hat er seiner Tochter Briefe geschrieben, mit Herzchen drauf, und in den Briefen stand wahrhaftig, dass sie das Einzige sei, was ihm geblieben ist. Der Kontakt ist dann unterbunden worden. Ja doch, Sie sollten auf die Tochter Acht geben. Soviel ich weiß, hat das Stadtjugendamt damals die Vormundschaft übernommen. Vielleicht wissen die etwas über ihren Verbleib.«
    »Sie sprachen vorhin von den Pillen, die Thalmann genommen hat«, sagte Berndorf. »Wissen Sie noch, was das für Zeug war?«
    »Ich weiß gar nicht, ob es noch auf dem Markt ist«, sagte Halberg, »Sansopan hieß es wohl, ein Mittel gegen

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