Der Schatten des Schwans
hergebeten, weil wir noch einmal die Umstände der Flucht von Thalmann durchsprechen wollen. Vielleicht finden wir doch ein paar brauchbare Hinweise für die weitere Fahndung.« Berndorf nickte Zürn zu, zog sich einen Stuhl an den Schreibtisch heran und setzte sich.
»Ja«, sagte Kastner, »ein bisschen merkwürdig ist es schon.« Aus einem Stapel von Fotografien, die vor ihm lagen, zog er eine hervor und reichte sie Berndorf. Die Aufnahme zeigte ein sargähnliches Möbelstück, mit aufgeschlagenem Deckel, schräg von oben fotografiert. An der Innenseite des Sargs war ein Schlüsselloch; ein Schlüssel steckte drin.
»Übrigens ist das kein Sarg«, sagte Kastner. »Das ist eine Sitztruhe. Eine Sitztruhe aus der Anstaltsschreinerei der JVA
Mariazell, da kennt man sich ja mit dem Sitzen aus. Eine Sitztruhe, von innen abzuschließen. Damit man nicht gestört wird, wenn man drinliegt. Ist ja eigentlich klar.« Er zog ein weiteres Bild hervor. Es zeigte eine Seitenwand mit einem aufgeschobenen Paneel. »Man will atmen in so einem Ding. Kann ich gut verstehen.«
Das alles sei ihm auch schon aufgefallen, sagte Zürn mit einer leisen, beherrschten Stimme. »Es sieht so aus, als ob die Truhe vorher präpariert worden ist.« Aber leider könne er dazu gar nichts sagen. Die Arbeiten in der Schreinerei seien von Werkmeister Maugg beaufsichtigt worden. »Kollege Maugg ist leider tot.«
»Ja, leider«, sagte Kastner. »Es ist ja alles über den toten Kollegen Maugg gelaufen, ein ungemein praktischer Kollege war das, wirklich, was wird die JVA jetzt ohne ihn tun?« Kastner wandte sich Berndorf zu. »Diese Schreinerei! Hochmodern. Durchrationalisiert. Rechnergesteuerte Maschinen. Du willst eine Sitztruhe? Mooreiche massiv? Finnisch-altdeutsch? Kein Problem. Du sagst es, sagen wir einmal: hier dem Kollegen Zürn, und der sagt es dem Kollegen Maugg, und die Automaten fräsen es Dir.«
Da liege ein Missverständnis vor, sagte Zürn, mit dem Betrieb der Schreinerei habe er nichts zu tun, selbstverständlich habe er auch nicht akquiriert.
»Entschuldigung, Kollege«, sagte Kastner. »Natürlich haben Sie nicht akquiriert, wo käme der Justizvollzugsdienst hin, wenn er auch noch akquirieren müsste!« Dann machte er eine Pause. »Übrigens hab ich zwei von unseren jungen schlauen Leuten vom Dezernat Wirtschaftskriminalität drangesetzt«, sagte er dann. »Das sind Computer-Freaks, die werden das alles bis auf den Grund durchleuchten. Restlos. Produktionsabläufe. Arbeitsstunden. Stromverbrauch. Eingekaufte Werkstoffe. Abgerechnete Werkstoffe. Lagerbestände. Keine Frage bleibt da offen, die das Andenken des armen toten Kollegen Maugg in Zweifel ziehen könnte.«
»Und wenn herauskommt, dass etwas faul ist«, fuhr er fort, »dass da eine Sache gelaufen ist, die der alte Trunkenbold Maugg ganz gewiss niemals allein gefingert hat, dann stellen wir ein paar Leuten die Wohnung auf den Kopf, vielleicht schon heute Nacht. Das wird eine Freude für die Nachbarn werden, Zürn, glauben Sie mir das.« Er wandte sich Berndorf zu. »Wegen des Hausdurchsuchungsbefehls haben wir den Bereitschaftsrichter schon vorgewarnt.«
Zürn schwieg. Kastner hatte zu plump geblufft, fand Berndorf. So schnell würden die schlauen jungen Leute nicht fündig werden. Aber jetzt war er an der Reihe.
»Wir befürchten, Kollege Zürn, dass Thalmann weitere Straftaten begehen wird«, sagte er freundlich. »Weitere Verbrechen. Dass er möglicherweise wieder töten wird. Dass wir dies verhindern, hat für uns absolute Priorität. Das heißt, dass dies allen anderen Aspekten gegenüber vorrangig ist.« Berndorf machte eine Pause.
Zürn schien ungerührt. »Es ist doch selbstverständlich, dass meine Kollegen und ich Ihnen alles sagen, was Ihnen bei der Fahndung helfen kann«, sagte er höflich und zog sich wieder in seine Uniform zurück.
Alle drei schwiegen. Zürn hatte die Hände gefaltet, und mit dem Daumennagel der einen Hand scheuerte er an der Nagelhaut des anderen Daumens. Es war eine kleine kratzende, scharrende Bewegung. Sie hörte nicht auf.
Noch immer schwiegen die drei Männer. Der Daumennagel schabte weiter.
»Solche Hautfetzen sind wirklich ärgerlich«, sagte Berndorf in die Stille. »Können einem den letzten Nerv rauben.«
Zürn hob den Kopf und sah ihn verstört an. Plötzlich wusste Berndorf, dass sie den Richtigen vor sich hatten. Er nickte Kastner zu. Es war der gleiche Blick, mit dem sie sich von Schachbrett zu Schachbrett verständigten,
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