Der Schatten des Schwans
sagte Kastner, »300 000 Mark! Hat gewiss alles der arme alte Maugg gefingert, allein, des Nachts in der Schreinerei!«
»Da ist noch etwas«, sagte der junge Mann und schob sich seine Hornbrille zurecht. »Von den Erlösen sind der Datei zufolge knapp 60 000 Mark für Zuwendungen verwendet worden. Der Rest ist zu gleichen Teilen als Auszahlung an die Empfänger Maugg, Thalmann und Zürn verbucht.«
Zürn schwieg. Bleiern fiel das Deckenlicht auf die vier Männer um Kastners Schreibtisch.
»Ich möchte mit einem Anwalt sprechen«, sagte Zürn schließlich.
Tamar hatte in Ulm angerufen, sie würde erst spät kommen; ohnehin hatte Bastian Nachtdienst in seiner Klinik. Danach gingen Hannah und sie essen. Draußen war es nasskalt, und das Licht der Straßenlampen versickerte im Dunst. Vor einem Sanitätsgeschäft war ein Wagen geparkt, in dem zwei Männer saßen. Sie vermieden den Blickkontakt zu Tamar.
Hannah führte sie zu einer Eckkneipe an der Einmündung einer dunklen Nebenstraße. »Der Wirt kocht mexikanisch«, erklärte sie. »Nichts Besonderes. Aber ich bin gern dort.« Sie stiegen einige Treppenstufen hoch und traten in einen Schankraum, der von herunterhängenden Deckenlampen nur kümmerlich erleuchtet war. An dunklen Resopaltischen saßen fast nur jüngere Leute, die meisten von ihnen Mädchen oder junge Frauen. In einer Ecke hockte ein älterer Mann in sich gekehrt vor einem Bier. Vielleicht war er der letzte Überlebende eines Stammtisches aus den Zeiten, dachte Tamar, als man in dem Lokal noch einen Gaisburger Marsch bestellen konnte oder Krautwickel.
Die beiden Frauen fanden einen Tisch für sich. An der Wand hinter Hannah hing ein großer Reklamespiegel, auf dem ein schnauzbärtiger Kerl mit einem Sombrero neben einem mächtigen Säulenkaktus für eine Tequila-Marke warb. Der Sombrero war gelb und der Kaktus grün, und als Kontrast dazu schimmerte im Kneipenlicht fuchsrot Hannahs kurz geschnittener Haarschopf.
Als Kellner kam ein junger Mann mit einer goldblond gefärbten Igelfrisur. Sie bestellten Enchiladas und als Vorspeise Tacos mit einer Chili- und einer Avocado-Sauce. Zum Trinken wollte Hannah ein Bier. Sie duzte sich mit dem Kellner, der ungefragt auch Tamar in das Du einbezog. Eigentlich verabscheute Tamar das Szene-Duzen noch mehr als Bier.
»Bring mir ein Mineralwasser«, sagte sie schließlich und
wartete, bis der Kellner gegangen war. »Das ›Sie‹ klingt hier irgendwie blöd«, meinte sie dann, »vielleicht sollten wir auch Du sagen – wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Wenn es dir nichts ausmacht«, korrigierte Hannah. Dabei warf sie Tamar einen kurzen und forschenden Blick zu. Der Kellner brachte die Tapas, die Schale mit der Avocado-Paste war für Tamar. Es schmeckte so aufregend wie vegetarischer Brotaufstrich.
»Darf ich mal probieren?«, fragte Hannah. Tamar schob ihr die Schale zu und beobachtete, wie Hannah einen der Mais-Chips in die Sauce eintauchte. Sie hatte eine kleine zierliche Hand mit festen entschlossenen Fingern.
Umgekehrt sollte nun auch Tamar von der Chili-Sauce versuchen. »Aber Vorsicht!«, sagte Hannah noch. Wieso? dachte Tamar. Dann war es schon zu spät. Der Chili brannte so höllisch, dass Tamar die Tränen in die Augen schossen.
Der Mann in der Ecke hatte sein Bierglas zu sich hergezogen und behielt es in der Hand, als ob er sich damit schützen müsse. Er vermied es, anders als wie zufällig nach dem Tisch drüben an der Wand zu sehen. Das Pochen in seiner Brust klang allmählich wieder ab. Die Stimme des Blutes? So weit her war es damit nicht, dachte er. Sonst hätte er sich ganz sicher sein müssen. Das letzte Bild seines Mädchens, das er sich hatte besorgen können, zeigte Hannah bei der Abschlussfeier ihrer Realschulklasse. Zart, unglaublich zart und schutzbedürftig sah sie darauf aus mit ihren langen rotblonden Locken und dem blassen Gesichtchen.
Die junge Frau da drüben, mit dem kurzen roten Haar, war schmal und zierlich. Aber sie wirkte weder zart, noch war sie schutzbedürftig. Im Grunde erinnerte nichts mehr an das Mädchen auf dem Schulfoto, dachte er, ausgenommen dieser eigentümliche Zug um die ungleichen Augen. Und warum hatte sie diese verkleidete Polizistin bei sich? Es musste also doch Hannah sein. Offenbar glaubten sie, dass sie seiner
Tochter einen Leibwächter hinterherschicken müssten, um sie vor ihm zu schützen. Vor ihrem eigenen Vater.
»Polizistinnen hab’ ich mir immer mit einem Dutt und in einem
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