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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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hat mehr Verständnis.«
    Das Betatschen sei wirklich eine Pest, meinte Tamar. »Was glauben Sie, was jungen Polizistinnen manchmal zugemutet wird, auch heute noch.«
    Beim Tee wollte Hannah wissen, wie ihr Vater aus dem Knast gekommen war. Sie nennt ihn wirklich ihren Vater, dachte Tamar. Dabei hätte dieser Kerl um ein Haar auch sie umgebracht.
    »Wenn es stimmt, was meine Kollegen behaupten, hat er sich in einer Sitztruhe hinaustragen lassen«, sagte sie.
    Hannah schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wirklich wahr.« Sie richtete ihre ungleich großen graugrünen Augen auf Tamar. »So etwas gibt es nur in einem schlechten komischen Film. In einem sehr schlechten. Und was immer mein Vater ist: komisch ist er ganz bestimmt nicht.«
    »Das glauben wir auch nicht. Überhaupt nicht«, sagte Tamar und ging auf die Geschichte mit der Sitztruhe lieber nicht ein. »Wir haben deshalb sogar veranlasst, dass Sie überwacht werden.«
    Hannah runzelte die Stirn. »Um ihn dann zu schnappen? Wie ein wildes Tier?«
    »Um Sie zu schützen«, sagte Tamar sanft. Zu spät fiel ihr ein, dass sich das anhören musste, als seien sie bei der Verkehrserziehung im Schulkindergarten.

    »Ach Scheiße«, antwortete die junge Frau zornig, setzte die Teetasse ab und wandte sich Tamar zu, die neben ihr auf der kleinen Couch saß. »Ich weiß nichts von meinem Vater. Nichts weiß ich, nichts von meiner Mutter, nichts von unserem Leben. Nur, dass da einmal diese schreckliche Geschichte war. Das Schreckliche, das mein Vater getan hat. Warum hat er das getan, wer hat ihn das tun lassen, was war davor? Das Einzige, was ich weiß, ist das da.« Hannah zog sich den Rollkragenpullover herunter. Sie hielt den Kopf zur Seite, so dass sich die Haut spannte und Tamar die schmale, kaum sichtbare Narbe sah, die sich unterhalb des Ohres nach vorne zog.
    Hannah stand auf und ging zu einem kleinen Bücherregal. »Sie haben alles weggenommen, was an meinen Vater erinnert. Das arme Kind, das nichts mehr von seinem bösen Vater wissen darf! Er sollte mir auch in Gedanken nicht mehr weh tun dürfen, haben sie gesagt.« Mit einem Fotoalbum in der Hand kam sie zu der Couch zurück. Das Album zeigte schon verblasste Farbaufnahmen einer ernsten jungen Frau und eines Mädchens, das auffällig adrett gekleidet war, wie eine kleine puppenhafte Prinzessin. Fast jedes zweite Bild aus dem Album fehlte. »Sie haben die Bilder von meinem Vater herausgerissen, ich sollte mich nicht ängstigen müssen, aber nachts träume ich, dass ich nach den Bildern suche.«
    Hannah schwieg. Tamar überlegte, warum sie – verflucht noch einmal – nicht gelernt hatte, was die taktvolle Polizistin in einer solchen Situation sagt.
    »Sie müssen nichts sagen«, sagte Hannah. »Sie sollen nur verstehen, was das Problem ist. Ich möchte wissen, ob wir auch einmal glücklich waren. Meine Mutter, mein Vater. Und ich. Und wenn mir mein Vater erzählen kann, wie es war, bevor das Unglück kam – dann ist mir das wichtiger als alles andere. Ich habe mir deshalb schon lang überlegt, ob ich ihn besuchen soll.«
    Tamar wollte wissen, warum sie es nicht getan habe.

    »Ich hatte Angst«, sagte Hannah. »Ich hatte Angst, dass wieder alles über mich hereinbricht. Dass die Mutti tot ist. Und auch der andere Mann. Und dass dieses Böse nach mir greift. Das Böse, in das sich mein Vater verfangen hat.«
     
    Das Licht der Deckenleuchte fiel auf den erschöpften Zürn. Zum fünften Mal hatte ihn Kastner erklären lassen, wer am Morgen das Verladen der Möbel überwacht hatte. Wann er wo Thalmann zum letzten Mal gesprochen hatte.
    Zum fünften Mal erzählte Zürn, wer wofür zuständig ist.
    An der Tür klopfte es, ein junger Mann in Jeans und mit einer Hornbrille kam herein, trat zu Kastner und reichte ihm einen Zettel. Halblaut erklärte er ihm etwas.
    »Das können wir alle hören«, sagte Kastner dröhnend. »Auch der Kollege Zürn. Gerade der Kollege Zürn.«
    Der Mann mit der Hornbrille richtete sich auf. Er trug einen hellbeigen Pullover, auf dessen Brust springende dunkelblaue Hirsche gestickt waren.
    »Wir haben das interne Abrechnungssystem der JVA überprüft und sind dabei auf eine separate Datenbank gestoßen«, sagte der Mann mit den Hirschen. »Die Datenbank ist gegen den allgemeinen Informationstransfer abgeschirmt. Gespeichert sind gesonderte Aufträge und Arbeitsvorgänge der Anstaltsschreinerei mit einem finanziellen Volumen von knapp 300 000 Mark.«
    »Hören Sie, Kollege Zürn«,

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