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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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wenn eine Partie am Kippen war.

     
    Noch am Nachmittag hatte Tamar in dem Laden angerufen, in dem Hannah Thalmann arbeitete, und sie auch selbst ans Telefon bekommen. Hannah hatte eine feste Stimme, in der die bäuerische Dialektfärbung der Alb kaum mehr durchdrang. Nein, sie habe nichts von ihrem Vater gehört, sagte sie, sie wisse überhaupt nichts von ihm: »Wir haben keinen Kontakt, seit das damals geschah.« Tamar hatte ihr dann eröffnet, dass Thalmann geflohen sei und dass er vielleicht versuchen werde, mit Hannah Kontakt aufzunehmen. Hannah hatte gezögert und dann gemeint, sie könnten ruhig darüber reden. Sie habe auch nichts dagegen, wenn Tamar zu ihr in die Galerie komme: »Es ist sowieso besser, wenn mein Chef Bescheid weiß.«
     
    Tamar war über die Autobahn nach Stuttgart gefahren und hatte ihren Wagen in einem Parkhaus in Degerloch oberhalb der Stadt abgestellt. Der Laden lag in einer Seitenstraße zwischen Schlossplatz und Liederhalle. Tamar stellte fest, dass es tatsächlich eine kleine Galerie mit einem eigenen Ausstellungsraum war. Ihr Blick fiel auf glatte, gerundete Steinplastiken, die sie an Muscheln erinnerten. Die Formen erschienen ihr weich und anschmiegsam, so, als wollten sie – sehr zart – berührt werden.
    An den Wänden hingen großformatige Ölgemälde in kräftigen wilden Farben, eines der Bilder zeigte eine junge Frau, die sich mit abgewandtem Kopf einem bärtigen, grauhaarigen Mann anbot.
    »Ein Patriarch. Auf seine Würde bedacht. Längst über das Alter hinaus, in dem man sich noch auf Dummheiten einlässt. Und sie – sie zeigt gar nicht viel, eine Bewegung mit der Hand, eine gewisse Stellung des Fußes. Und doch hat sie ihn schon an der Angel. Packend, finden Sie nicht? Ein biblisches Motiv, nebenbei bemerkt.« Der Mann, der neben ihr stand, sprach mit einer hellen, fast jugendlichen Stimme. Dabei war er glatzköpfig, was seine dicken Lippen fast obszön erscheinen
ließ. Einen Augenblick lang überlegte sich Tamar, ob er sich die Glatze hatte rasieren lassen. Er trug einen naturfarbenen Leinenanzug und darunter ein schwarzes Seidenhemd.
    »Verzeihung«, sagte er, als er Tamars prüfenden Blick bemerkte, »die Dame ist der Herr von der Polizei! Ich bin beeindruckt.« Dann ging er in einen angrenzenden Raum und rief hinein: »Kommen Sie, Hannah. Ihr Besuch.«
    Eine mittelgroße junge Frau mit schmaler Taille und kräftigen Hüften erschien im Durchgang zur Galerie. Sie hatte ein blasses unregelmäßiges Gesicht mit einem großzügig geschwungenen Mund. Eines ihrer graugrünen Augen schien größer zu sein als das andere, was ihren Blick auf eine für Tamar beunruhigende Weise fragend und verletzlich erscheinen ließ. Ihre Haare waren fuchsrot und kurz geschnitten. Sie trug einen langen schwarzen Rock und darüber einen schwarzen Rollkragenpullover. Tamar stellte sich vor. Dabei überlegte sie, ob der Pullover die Narbe verdecken müsse.
     
    »Ich bin Hannah Thalmann«, sagte die junge Frau. Die Stimme klang jünger als am Telefon. Im Hintergrund meinte der Mann im Leinenanzug, sie würden ohnehin gleich schließen und Hannah könne mit ihrem Besuch ruhig schon gehen. Tamar hatte Mühe, richtig zuzuhören. Hannah holte ihren Mantel. Er war lang und dunkel und schon lange aus der Mode.
    Die beiden Frauen gingen Richtung Schlossplatz. Als sie an dem Wagen vorbeikam, der zwanzig Meter von der Galerie entfernt geparkt war, nickte Tamar den beiden Männern darin unauffällig zu.
    Hannah schlug vor, dass sie zu ihr gehen könnten. Sie habe nichts für den Abend vor, und in einem Café würde sie nicht gerne über ihren Vater sprechen: »Oder muss das auf der Polizei sein?«
    »Nein«, sagte Tamar, das müsse wirklich nicht sein, und sie begleite Hannah gerne nach Hause.
    Hannah wohnte in der Gutenbergstraße, in der Dachstockwohnung
eines der alten, aus Backsteinen gemauerten Mietshäuser des Stuttgarter Westens.
    Das Appartement war winzig, aber es hatte ein großes Dachfenster. Tamar nahm eine Staffelei wahr, das halb fertige Bild darauf zeigte eine heftige Farbenexplosion, andere Bilder waren an die Wand gelehnt und verdeckten sich teilweise. Hannah stellte das halb fertige Bild weg, es sei das alles »noch nicht so weit«, meinte sie und ging zu der kleinen Teeküche, um Wasser aufzusetzen. Es sei übrigens wirklich kein Problem gewesen, sagte sie dann, dass Tamar sie in der Galerie abgeholt habe: »Das ist angenehm bei einem schwulen Chef. Er betatscht einen nicht und

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