Der Schatten des Schwans
Kostüm vorgestellt«, sagte Hannah. »Wir hatten nämlich einmal eine im Unterricht, die uns etwas über die netten Onkels erzählt hat. Sie trug einen Dutt, wie die alten Frauen bei uns im Dorf, aber dazu ein Kostüm, ein graues, glaube ich. Ich dachte, dass das ihre Uniform ist.« Sie unterbrach sich und warf einen Blick auf Tamars hoch gesteckte Frisur.
Tamar tastete nach ihrem Haar. »Das gilt nicht?«
»Nein«, sagte Hannah und legte den Kopf schief, »meinen Anforderungen an einen echten Polizistinnen-Dutt hätte das, glaube ich, nicht genügt.«
»Die Kollegin gibt es übrigens immer noch«, meinte Tamar. »Dutt und Kostüm – das ist, ohne jeden Zweifel, Sabine Mühlbauer vom Dezernat Jugendschutz. Übrigens eine wirklich nette und patente Frau.« Hannah wollte wissen, warum nette Frauen zur Polizei gehen. Tamar meinte, sie solle sie etwas Leichteres fragen.
»Also, warum bist du Polizistin geworden?«
Tamar überlegte. So genau wusste sie es wirklich nicht. »Früher wollte ich mal Anwältin werden. Aber dann ist mir aufgefallen, dass wirklich nur die grauenhaftesten Streber Jura studieren.« Sie machte eine Pause und versenkte einen kurzen Blick in Hannahs irrlichternde Augen. Aus irgendeinem Grund war das fast nicht auszuhalten.
Sie schaute weg. Im Spiegel mit der Tequila-Reklame sah sie, dass der einzelne ältere Mann aufstand und seinen Mantel anzog.
Sie überlegte, ob sie Hannah etwas von ihrer Arbeit erzählen solle. Von ihrer Arbeit mit ganz normalen Leuten. Von dem Onkel zum Beispiel, der mit seinem elfjährigen Neffen gebalgt und ihm zum Spaß am Kopf geschüttelt und ihm dabei ganz beiläufig das Genick gebrochen hatte und der, als die
Eltern schreiend herbeistürzten, auf sie einredete, dass er doch nichts weiter getan habe, als den Jungen nur eben zu schütteln, nur ein bisschen, wenn er es einmal zeigen dürfe, und der dann den zweiten Sohn, den Neunjährigen, am Kopf genommen und vor der kreischenden Mutter geschüttelt habe, und dann war auch diesem das Genick gebrochen. Sollte sie das Hannah wirklich erzählen, ausgerechnet Hannah?
Hannah warf ihr einen forschenden Blick zu. »Ich stell’ mir deinen Job unheimlich spannend vor«, sagte sie leichthin. Spannend, dachte Tamar. Schrecklich und grauenhaft und unsagbar ist das alles, aber wenn du es nicht weißt, wer weiß es dann? Der Goldblonde brachte die Enchiladas.
Der Mann war aus dem Lokal in den Nieselregen hinausgetreten und schlug den Mantelkragen hoch. Vor dem Bezahlen hatte er überlegt, ob er noch einen Kaffee bestellen solle. Aber nach den Maisfladen zu schließen, hätte er nicht viel Freude daran gehabt. Außerdem schlief er ohnehin schlecht. Hannah, wenn sie es war, hätte er wegen dieser Polizistin ohnehin nicht ansprechen können.
Langsam ging er über den Gehsteig der Gutenbergstraße. Als er an dem Wagen mit den beiden Männern vorbeikam, warf er einen gleichgültigen Blick in das Schaufenster, das auf gleicher Höhe war. Das Schaufenster gehörte zu einem Sanitätsgeschäft und zeigte Hühneraugenpflaster und auf einer Schautafel eine fröhliche junge Frau, die sich ein Stützkorsett anlegte. Der Mann wechselte die Straßenseite und bog zur Rotebühlstraße ab, die quer durch den Stuttgarter Westen führt.
Er überlegte, warum es überhaupt Polizeibeamte in Uniform und solche in Zivil gab. Wer sich darauf verstand, erkannte sie schon an der Kopfhaltung. Vermutlich hatten sie alle ein Fahndungsfoto von ihm. Aber das war seine geringste Sorge. Auf dem Foto sah er aus wie Frankensteins Neffe. Dabei war er ein Passant wie hundert andere auch.
Kurz vor der Rotebühlstraße erreichte er eine kleine Pension. Vertreter übernachteten hier, Kundendienstmitarbeiter, Monteure. Und eben auch Heinrich Andres. Der Name Neumann war verbraucht.
Kastner schaltete das Licht in der Küche des Reihenhauses an und ging zum Kühlschrank. »Setz dich«, sagte er. Berndorf rutschte auf die Eckbank hinter dem Esstisch. Kastner brachte eine dunkle gekühlte Flasche mit einem handbeschrifteten Etikett und stellte dazu zwei Gläser. Dann ging er ins Wohnzimmer und kehrte mit Schachuhr, Brett und einem Figurenkasten zurück. »Und Lisa?«
»Wird schon schlafen«, sagte Kastner und goss die beiden Gläser halb voll. »Es läuft grad nicht so besonders gut zwischen uns. Dass es wieder besser wird, Prost!« Die beiden Männer hoben die Gläser mit der wasserhellen Flüssigkeit. Kastners selbst gebranntes Zwetschgenwasser nahm
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