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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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im Dunklen dachte er an Hannah. Inzwischen war er sicher, dass die junge Frau mit dem kurzen Haar seine Tochter war. Er hatte sie sich anders vorgestellt. War es das, was das Jugendamt aus ihr gemacht hatte? Dunkel kam ihm der Gedanke, dass sie nie wieder sein kleines Mädchen sein würde.
    Ohnehin war die Polizei zu dicht an ihr dran. So bald würde er also nicht mit ihr sprechen können. Schade. Aber er hatte noch anderes zu tun. Zu erledigen.

Donnerstag, 29. Januar
    Die Dienststunden des Diplompsychologen Dr. Bernd Krummsiek in der JVA Mariazell begannen um acht Uhr. Aber Krummsieks Tochter hatte vor Schulbeginn wieder einen ihrer Brechanfälle gehabt, und so traf er erst kurz vor neun Uhr ein. Verärgert nahm er den Mann wahr, der auf der Bank vor seinem Dienstzimmer gewartet hatte und der bei seinem Kommen aufstand. Der Mann trug einen grauen Glencheck-Anzug und dazu einen Rollkragenpullover. Auch der Pullover war grau. Der Mann war mittelgroß und wohl schon über 50. In seiner Haltung war etwas, von dem sich Krummsiek unangenehm berührt fühlte.
    »Was wollen Sie? Ich habe jetzt überhaupt keine Zeit, sind Sie denn überhaupt angemeldet«, sagte er anstelle einer Begrüßung.
    »Guten Morgen«, sagte Berndorf langsam. »Ich bin nicht angemeldet. Vielleicht sollten Sie doch mit mir sprechen.« Dann stellte er sich vor.
    »Aber wie denken Sie sich das, diese Aufregung hier im Haus! Ich kann jetzt wirklich nicht«, wehrte Krummsiek ab. Berndorf sah ihn kalt und ruhig an.
    Krummsieks Unbehagen wuchs. Zugleich kam ihm der Gedanke, dass ihm dieser graue Mensch Ärger machen könnte. »Also bitte – kommen Sie rein«, sagte er schließlich mürrisch.
Krummsieks Dienstzimmer wirkte unerwartet hell, fast freundlich. Berndorf erklärte, was er wissen wollte.
    »Eigentlich kann ich Ihnen über Thalmann nicht viel mehr sagen, als in meinem Gutachten zur Frage einer bedingten Haftentlassung steht«, sagte Krummsiek. »Ich habe ihm, Sie können es ja nachlesen, eine eigentlich sehr günstige Prognose gestellt. Natürlich war er, wie soll ich es ausdrücken, für Explorationsgespräche nur bedingt zugänglich, über die Tat hat er sich mir gegenüber nie äußern wollen. Wenn ein Gespräch zustande kam, dann meist über populärwissenschaftliche Themen, Psychopharmaka haben ihn außerordentlich interessiert ... Nun bin ich nicht Psychiater, sondern Psychologe, aber ich habe ihm immerhin einige Fachbücher zur Verfügung stellen können, soweit es zu dieser Materie leicht fassliche Literatur gibt, der Mann war ja eigentlich Schreiner, Sie verstehen.«
    Berndorf sagte, er verstehe nicht. Krummsiek blickte ihn verunsichert an.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er dann. »Psychopharmaka sind Medikamente, die das menschliche Verhalten und Befinden beeinflussen können. Beruhigungsmittel gehören dazu, Tranquilizer, oder Neuroleptika, wie sie zur Behandlung von Psychosen medikamentiert werden. Thalmann zeigte sich besonders an Abhandlungen über sogenannte Thymoleptika interessiert, das sind stimmungsaufhellende Wirkstoffe, wie sie bei Depressionen oder Angstzuständen gegeben werden.«
    »War er selbst von so etwas abhängig?«, fragte Berndorf.
    »Er hat wohl früher Tabletten genommen, ziemlich starke Tranquilizer, zunächst auch noch in der Haft, wie den Unterlagen zu entnehmen ist«, sagte Krummsiek. »Viele der Gefangenen kämen ohne so etwas gar nicht über die Runden, vor allem nicht zu Beginn von langen Strafen. Mein Vorgänger hat ihn dann davon abgebracht. Thalmann hat schließlich so viel darüber gelesen, dass er sich selbst für einen Fachmann auf diesem Gebiet hielt. Sie kennen das sicher: Laien, die sich
in ein Fachgebiet eingelesen haben, neigen dazu, sich irgendwann für kompetenter als die Experten selbst zu halten. Und vertreten mit geradezu zelotischem Eifer irgendwelche Erkenntnisse, die sie bruchstückhaft oder halb verstanden aufgeschnappt haben.«
    »Und was hat Thalmann halb verstanden?«
    »Ach Gott«, sagte Krummsiek und hob hilflos beide Hände, »er hat eine Verschwörung gewittert, ein Komplott, angeblich hätten die Nazis schon Menschenversuche gemacht mit solchen Medikamenten, absurdes, abstruses Zeug! Er hat deshalb sogar an die Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen geschrieben, die haben natürlich nichts damit anfangen können.«
    Berndorf wollte wissen, ob er den Briefwechsel einsehen könne. Krummsiek zögerte. Er habe sich Ablichtungen gemacht, sagte er dann. Thalmann

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