Der Schatten des Schwans
alle beide zu konventionell, zu gefällig«, sagte sie dann. »Ich mag es nicht, wenn es so zahm ist. Aber die Sachen verkaufen sich nicht schlecht. Und die Galerie lebt vom Verkaufen.«
Dann erzählte Hannah, sie hoffe, vielleicht doch an die Kunstakademie zugelassen zu werden. Tamar fragte, wie sie das finanzieren wolle.
»Warum soll es dafür kein Bafög geben?«, sagte Hannah. »Und jobben kann ich auch. In der Galerie zum Beispiel.«
»Und deine Großmutter? Gibt die dir nichts?« Was red’ ich da, dachte sie noch. Aber da war es schon heraus.
Hannahs Gesicht rutschte ab. »Ach ja, die Polizistin!«, sagte sie dann mit kühler Stimme, »fast habe ich es vergessen. Nein, meine Großmutter kann mir nichts geben. Das ist eine dumme arme Alkoholikerin, das wissen Sie doch! Das Geld, das sie mir gegeben hat, ist von jemand anderem. Von einer Freundin meiner Mutter. Von meinem Vater kann es nicht sein, das wissen Sie auch, im Knast kann man doch nichts verdienen ...« Ganz gewiss, sagte sich Tamar, ganz gewiss bin ich die dümmste Pute auf Gottes Erdboden.
Kastner legte Berndorf im Bad ein Handtuch und einen Schlafanzug zurecht. Dann holte er aus dem Spiegelschrank über dem Handwaschbecken eine Tablettenschachtel, knickte sich eine stabförmige Pille aus der Folie und brach ein Drittel davon ab. Er spülte es mit Wasser aus einem Zahnputzglas herunter. »Was nimmst du da?«
Kastner zeigte es ihm. »Sansopan. Es hilft mir, cool zu bleiben. Ich hab’ schon auch Stress, weißt du. Und dann die Sache mit Lisa.«
»Du weißt schon, dass es auch ohne die Pillen geht?«, fragte Berndorf. »Du brauchst bloß deine Pfoten von den fremden Weibern zu lassen. Und trink um Gottes willen keinen Schnaps dazu.«
»Hast ja Recht«, sagte Kastner schwächlich. »Aber du weißt, wie es ist.«
Berndorf war zu müde, um sich zu fragen, ob er das wirklich wusste. Er ging in das kleine Gästezimmer und zog sich aus. Kastners Pyjama war zwei Nummern zu groß.
Dann löschte er das Licht. Eigentlich hätte er kopfüber in den Schlaf fallen müssen. Doch das Räderwerk in seinem Kopf drehte und drehte sich und wollte nicht damit aufhören. 28 Jahre und 3 Monate. 3 Monate und 28 Jahre.
Auf einmal war alles wieder gegenwärtig. Sprechchöre flammten auf, brachen sich an den Häuserwänden. »Bullen schützen Nazipack / Haut sie alle in den Sack.« Steine flogen. Oder war das erst später gewesen? Bereitschaftspolizisten gingen seitlich der Neuen Aula in Stellung, geschützt hinter ihren Plastikschilden, die Schlagstöcke in der Hand. In der Universitätskanzlei barsten die ersten Fensterscheiben. Mit erhobenen Händen stellte sich eine schmale junge Frau vor einen der Steinewerfer und schrie ihn an: »Nicht provozieren. Keine Steine!« Der gepanzerte Wasserwerfer auf der Hauptstraße richtete den Strahl mit voller Wucht auf die Studenten vor der Kanzlei. Das Wasser war mit Reizgas versetzt. Die Bereitschaftspolizisten an der Neuen Aula setzten sich in Bewegung. Die Menge der Studenten geriet durcheinander. Einige wollten weglaufen. Aber sie waren in der Falle. Einer der Einsatzführer stürzte mit erhobenem Knüppel auf die schmale junge Frau zu.
Der Einsatzführer war Steinbronner. Irgendjemand riss ihm den Arm zurück. Ein anderer Polizist. Ziemlich jung war er damals gewesen.
Berndorf dämmerte in einen traumlosen Schlaf.
Der Mann, der sich jetzt Heinrich Andres nannte, lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf gefaltet. Den Vorhang hatte er offen gelassen. Er sah dem Widerschein der Straßenlichter zu, die über die Zimmerdecke huschten, und hörte die Fahrgeräusche der wenigen Autos, die noch durch die Stadt fuhren. Es war seine zweite Nacht in der Freiheit. Er hatte sein Geld geholt, auch wenn es nur 38 000 Mark waren. Drei Prozent Abzug! Der Frankfurter Anwalt hatte seinen Schnitt gemacht. Einen ordentlichen Schnitt. Wenn er sich damit nur
nicht geschnitten hat, dachte der Mann und lächelte schmal. Es gibt noch andere Leute, die etwas vom Schneiden verstehen.
In einem Kaufhaus hatte er sich einen Anzug gekauft und einen Mantel dazu; für die beiden Lederjacken des Tettnanger Zahnarztes hatte ihm ein Händler auf dem Flohmarkt in Sachsenhausen 200 Mark gegeben. Den Anzug hatte er sich so ausgesucht, dass er darin möglichst unauffällig aussah, ungefähr so wie einer der stellungsuchenden Jedermänner, die es inzwischen mehr als genug im Land geben musste, wenn man den Nachrichten glauben durfte.
Noch
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