Der Schatten des Schwans
sich auf einen Stock, hielt sich aber sehr aufrecht und richtete forschende wässerig-blaue Augen auf seine Gäste.
Auch hier übernahm Englin die Vorstellung. Gustav Twienholt bat seine Besucher zu einer Sitzgruppe mit schweren braunen Lederfauteuils. »Für einen Tee ist es zu spät. Darf ich den Herren einen Whisky oder Cognac anbieten?« Englin bat um ein Mineralwasser. Berndorf sagte, dass er gerne einen Whisky nehme. »Einen Scotch? Pur? Sehr vernünftig«, sagte Twienholt, als Berndorf nickte, und warf seiner Tochter einen nachdrücklichen Blick zu, »ich schließe mich an.«
Die drei Männer setzten sich. Twienholts Tochter schob an der Schrankwand, die der Fensterfront gegenüber lag, eine
Hausbar auf, die nach sehr teuren Etiketten und noch teureren Kristallgläsern aussah, wie Berndorf fand. Dann brachte sie die Getränke und setzte sich neben ihren Vater. Berndorf sah, dass sie sich selbst einen Port eingeschenkt hatte.
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie – oder wir haben es – ein Sicherheitsproblem«, bemerkte Twienholt. Berndorf registrierte, dass er »ver-s-tanden« sagte. Englin bestätigte eifrig. Ja, es gebe ein Sicherheitsproblem. »Leider.« Dann erläuterte er die bedauerlichen Umstände, die Thalmanns Flucht ermöglicht hätten, und die Befürchtung, es könnten der Ermordung des Anwalts Halbergs weitere Verbrechen folgen. »Insbesondere mein Kollege hat diese Befürchtung«, fügte er hinzu und schaute Berndorf aufmunternd an.
»Thalmann sieht sich als Opfer«, erklärte Berndorf. »Als Opfer vor allem der Tabletten, die er damals genommen hat. Sie, Herr Professor Twienholt, haben sich damals in seinem Prozess als Sachverständiger dazu geäußert. Sie haben erklärt, er sei von diesen Medikamenten nicht abhängig gewesen. Es kann sein, dass er in Ihnen einen Hauptverantwortlichen für das Urteil sieht.«
Twienholt hatte ihn aufmerksam angesehen. Ach erinnere mich. Und ich weiß zu schätzen, dass Sie den Sachverhalt korrekt darstellen. Wie Sie richtig bemerken, bin ich als Sachverständiger gehört worden. Nicht als Gutachter, und ich habe ausdrücklich keine Einschätzung über die Schuldfähigkeit dieses Angeklagten Thalmann abgegeben. Sachverständig war ich insofern, als das Medikament, das dieser Mann genommen hat, unter meiner Leitung entwickelt worden ist.« Wieder fiel es Berndorf auf, dass er »sachver-s-tändig« sagte. Gleich wird er über den nächsten s-pitzen S-tein s-tolpern.
Nach einem kurzen Zögern fuhr Twienholt fort. »Ich habe damals gesagt, und dieses ›damals‹ bitte ich Sie zu beachten, dass eine Abhängigkeit von diesen Tabletten nicht begründet
werden kann. Und dass von ihnen ebenso wenig eine Veränderung der Persönlichkeitsstruktur ausgehen kann. Dies war mein damaliger Wissensstand. Ich würde dies heute so nicht wiederholen.«
»Dies ändert nichts daran, dass Thalmann möglicherweise versuchen wird, an Sie heranzutreten«, sagte Berndorf.
»Ich bin ein alter Mann«, sagte Twienholt, »mir selbst kann es gleichgültig sein.« Dennoch sei er im Hinblick auf seine Tochter und ihren Mann, aber vor allem auch wegen seiner Enkelin für den angebotenen Polizeischutz dankbar. Dabei warf er einen Blick auf ein großes Ölgemälde an der rechten Seitenwand, das eine selbstbewusste junge Frau in weißem Dress und mit Tennisschläger zeigte. Der Maler hatte dem schmalen Gesicht einen Zug kühler Selbstsicherheit gegeben, der Berndorf sehr glaubwürdig erschien: Die jungen Leute aus solchen Häusern sehen wohl wirklich so aus, dachte er.
»Es ist meine Tochter Nike«, sagte Anne-Marie Twienholt-Schülin, die seinem Blick gefolgt war. »Sie studiert in Köln, kommt aber gerne an den Wochenenden nach Ulm – wenn sie kein Turnier hat.«
»Aber ich bitte Sie«, schaltete sich Englin ein, »Sie brauchen sich wirklich nicht zu beunruhigen. Wir werden Thalmann in wenigen Tagen wieder sicher verwahrt haben!«
Was heißt: ›Wieder sicher verwahrt?‹, dachte Berndorf. Dann vereinbarte man, dass für die nächsten Tage zwei Beamte im Haus einquartiert würden. Sie würde ihnen eines der Gäste-Appartements zur Verfügung stellen, sagte die Twienholt-Tochter noch, als Englin und Berndorf sich verabschiedeten. Beim Hinausgehen fiel Berndorfs Blick auf ein Bild in einem schweren dunklen Rahmen. Es zeigte ein schilfbestandenes Gewässer in Abendstimmung, ein einzelner Schwan verharrte mit drohend ausgebreiteten Schwingen auf dem dunkel schimmernden
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