Der Schatten des Schwans
Wasser.
»Zu spaßen ist nicht mit ihm«, sagte Twienholt. Offenbar meinte er den Schwan. »Das Bild wird Caspar David Friedrich
zugeschrieben. Er soll mehrere Motive mit Schwänen gemalt haben. Aber Sie wissen ja, wie das mit Expertisen ist.«
»Von seinem Professorengehalt hat er dieses Anwesen aber nicht hingestellt«, sagte Berndorf, als sie zum Neuen Bau zurückfuhren.
»Natürlich nicht«, antwortete Englin. »Er hat Anteile an Luethi.«
»Seine Tochter ist Ärztin?«, fragte Berndorf.
»Ja«, antwortete Englin bereitwillig, »sie hat in der Villa auch noch eine eigene Praxis. Aber sie behandelt nur wenige ausgesuchte Patienten. Der Schwiegersohn ist der Wirtschaftsanwalt Eberhard Schülin.« Englin steuerte den Wagen am Stadthaus vorbei auf die Zufahrt zum Neuen Bau. Er warf einen Blick auf Berndorf, ob er ihm auch zuhöre.
»Der Schülin tut auch nicht viel. Macht irgendwas mit dem Internet. Was soll’s. Wenn ich auch nur die Hälfte von Twienholts Luethi-Anteilen hätte, ich täte keinen Handstreich mehr.« Ein Anflug von Sozialneid, fragte sich Berndorf. Dann wurde ihm klar, dass Englin nur kurz mal hatte zeigen wollen, wie vertraut er mit der wirklich guten Gesellschaft von Ulm war.
Freitag, 30. Januar,19 Uhr
Am Abend zwang sich Berndorf zu einer Stunde Waldlauf durch die Au an der Donau entlang. Während er in seinem Anorak und seinem alten Trainingsanzug über die Kieswege trabte, überholten ihn immer wieder andere Jogger. Er fühlte sich alt und spürte die Kilo, die er zu viel hatte, und ganz sicher auch Twienholts Whisky.
Als er wieder in seiner Wohnung war und geduscht hatte, empfand er trotzdem die stille und wärmende Euphorie, die sich nach der überstandenen Anstrengung des Laufens einstellt.
Alle, denen von Thalmann Gefahr drohen könnte, hatten Polizeischutz, dachte er, auch Gauggenrieder, wenngleich die Kollegen sich außerhalb des Grundstücks halten mussten. Und in den Städten zwischen Ulm und Stuttgart, aber auch entlang der Bahnlinie nach München waren Streifen unterwegs, die Hotels und Pensionen überprüften. Irgendwann würden sie Thalmann fassen, und dann könnte er endlich die Görlitzer Sache in Angriff nehmen.
Oberarzt Dr. Bastian Burgmair hatte sich an einem Bœuf Stroganoff versucht; er gehörte einer Generation an, deren aufstrebende Akademiker etwas vom Kochen verstanden. Tamar hatte sich derweil in ihr Zimmer zurückgezogen, um einen Brief zu schreiben. Sie wollte sich bei Hannah für ihre plump-polizistinnenhafte Fragerei entschuldigen. Und zugleich wollte sie ihr zeigen, wie gerne sie sie wiedersehen würde. Einfach so. Weil sie gerne mit ihr befreundet wäre.
Beim Schreiben stellte Tamar fest, dass es Gefühle und Empfindungen gibt, die von ganz eindeutiger und klarer Natur sind und die sich doch hartnäckig jedem Versuch entziehen, sie in Worte zu fassen. Vor allem dann, wenn man sie so formulieren muss, dass es auch die Kollegen von der Stuttgarter Polizei würden lesen dürfen. Falls sie auf den Gedanken gekommen sein sollten, Hannahs Post zu überwachen.
Aber wahrscheinlich würde sie den Brief gar nicht abschicken. Eigentlich schrieb sie ihn nur für sich. Um in ihrem eigenen Kopf aufzuräumen. Berndorf hatte sich nicht davon abbringen lassen, mit ihr morgen Hannah zu besuchen.
Freitag, 30. Januar, 20 Uhr
Als Berndorf sich umgezogen hatte, rief Kovacz an. Er habe auf seinem Display gesehen, dass der Kommissar ihn gestern zu erreichen versucht habe. Berndorf hatte es schon fast vergessen.
»Ja, danke für den Rückruf«, sagte er dann, »es war wegen dieses entsprungenen Strafgefangenen Thalmann, genauer: wegen eines Briefwechsels, den er geführt hat. Da wusste ich noch nicht, dass es den alten Halberg erwischt hat. Und dass wir Ihnen in der anderen Sache Vergleichsproben schicken würden.«
»Ja«, sagte Kovacz, »ich habe mir Halberg angesehen. Es war eine saubere Arbeit, rein fachmännisch betrachtet.« Der Gerichtsmediziner war noch in seinem Büro und schlug vor, dass Berndorf kurz zu ihm herüberkomme und ihm den Briefwechsel zeige.
Von Berndorfs Wohnung war es nicht weit zu der alten gelben Villa der Gerichtsmedizin. Die Haupttür war verschlossen, und Kovacz musste herunterkommen, um ihn hereinzulassen. Wieder in seinem Büro, ging Kovacz zu einem frei stehenden Kühlschrank und meinte, der Tag sei ja nun alt genug, dass sie sich guten Gewissens ein Bier erlauben könnten. Dann holte er aus dem Kühlschrank, von dem Berndorf lieber
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