Der Schatten des Schwans
Zahlungsaufträge liefen über Zürn. Angeblich waren es über 20 000 Mark. Na ja, geht uns nichts an, soll die Justizkasse mit der Thalmann-Tochter ausmachen.« Aber was, zum Kuckuck, fragte er sich, war mit Tamar? »Übrigens möchte ich, dass Sie morgen mit mir zu der Thalmann-Tochter fahren.«
Tamar atmete tief durch. »Sie beanstanden also meine Arbeit. Sollten Sie da nicht besser allein mit ihr sprechen?«
Berndorf hob beide Hände in einer entschuldigenden Geste. »Überhaupt nichts beanstande ich. Aber ich muss mir eine Vorstellung machen können. Ich will einfach wissen, wie sie aussieht. Was das für ein Mensch ist. Und Sie brauche ich gerade deshalb dabei, weil Sie schon mit ihr gesprochen haben.«
Dann klingelte das Telefon wieder. »Wir haben gar nicht so wenig über Twienholt«, sagte Frentzel, »Porträts, Interviews, Berichte über Vorträge, die er gehalten hat.« Berndorf sagte, dass er nur ein paar biografische Fakten brauche.
»Moment«, sagte Frentzel. Berndorf hörte, wie am andere Ende der Leitung geblättert wurde. »Also: geboren 1922 in Bad Muskau, Kriegsabitur, Wehrmacht, Nordafrika, nach dem Krieg Medizin- und Pharmaziestudium, Promotion 1948, Habilitation 1952, danach in der pharmazeutischen Forschung, 1956 eine außerplanmäßige Professur in Erlangen, Leiter der Forschungsabteilung von Luethi in Saulgau, 1975 Ruf nach Ulm. Bundesverdienstkreuz am Band. Pettenkofer-Medaille.
« Frentzel machte eine Pause. »Das war aus einem Porträt, das 1982 zu seinem 60. Geburtstag erschienen ist. Man will ja nicht neugierig sein: aber warum sich der Chef der Mordkommission für diesen Pillendreher interessiert, möcht’ unsereins schon gern wissen.«
»Ich brauch’ es für den Small Talk. Damit ich mich nicht danebenbenehme«, sagte Berndorf.
Englin fuhr den schweren Dienst-Daimler selbst. Wozu braucht er mich dann, fragte sich Berndorf und setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Wissen Sie«, sagte Englin vertraulich, als er in die Neue Straße einbog, »Twienholt hat noch immer beste Beziehungen zu Luethi in Saulgau. Ich möchte deutlich machen, dass wir in Bezug auf ihn höchste Sorgfalt walten lassen.« Endlich begriff Berndorf. Luethi war der bedeutendste Arbeitgeber in Saulgau, und Saulgau war der Wahlkreis von Schlauff, dem neuen Staatssekretär im Innenministerium. Und Englin, wer wusste das nicht, wollte auf eine Direktorenstelle.
Englin bog in die Frauenstraße ein und fuhr den Michelsberg hoch, zum vornehmsten Ulmer Wohngebiet. Fast unmittelbar unter der Wilhelmsburg, einem Festungsbauwerk aus dem 19. Jahrhundert, lenkte er den Wagen in eine Seitenstraße und hielt vor einem Anwesen, das von einem hohen Metallzaun aus verzinktem Stahl umgeben war. Dichte immergrüne Hecken versperrten den Blick durch den Zaun. Englin wählte über das Autotelefon eine Nummer an und meldete sich, als abgenommen wurde. Lautlos glitten zwei Torflügel auseinander. Englin fuhr auf einen gepflasterten Innenhof, und die Türflügel schlossen sich wieder. Vor ihnen lag die abweisende Rückfront eines weißen, in den Berghang geduckten Gebäudes mit ausladendem Dach. Die beiden Kriminalbeamten waren ausgestiegen. Eine nicht mehr junge Frau in einer unauffällig eleganten Kombination aus Rock, Jacke und Pullover kam ihnen entgegen, sie hatte ein blasses angespanntes
Gesicht und jene blonden Haare, die nicht ergrauen.
»Mein Vater erwartet Sie«, sagte sie und gab den beiden Männern die Hand. Englin versuchte, einen Handkuss anzudeuten. »Frau Dr. Twienholt-Schülin«, sagte er dann, »ich darf Ihnen meinen Mitarbeiter vorstellen, Kriminalhauptkommissar Berndorf.« Meinen Mitarbeiter! dachte Berndorf. Dann fiel ihm ein, dass er den Namen der Frau im Zusammenhang mit einem Freundeskreis für das Ulmer Theater schon gehört hatte, Anne-Marie hieß sie mit Vornamen.
Sie kamen durch eine große Halle und stiegen eine breite Marmortreppe empor. Die Frau geleitete sie zu einer Tür, die sich in einen weit geschwungenen Raum öffnete. Sie sahen sich einer breiten Fensterfront gegenüber. Durch die Winterdämmerung leuchtete tief unten das Lichtermeer der Stadt, über dem hoch und gewaltig das erleuchtete Münster zu schweben schien.
»Unten in der Stadt nimmt man gar nicht wahr, wie groß es in Wirklichkeit ist«, sagte eine Stimme neben Berndorf. Sie hatte einen unverkennbar norddeutschen Tonfall und gehörte einem sehr alten, weißhaarigen Mann mit einem schmalen, scharf profilierten Gesicht. Er stützte
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