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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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nicht wissen wollte, was sonst noch darin war, zwei
von Kälte beschlagene Flaschen, öffnete sie und reichte Berndorf eine davon.
    Die beiden Männer tranken sich schweigend zu. Kovacz setzte sich an seinen Schreibtisch und schlug einen Ordner auf. »Wegen Halberg habe ich mir zum Vergleich die Akten des Thalmann-Falles herausgesucht. Die Schnitttechnik, wenn ich das so sagen darf, erinnert schon sehr an die beiden damaligen Morde. Wollen Sie sehen?«
    Berndorf winkte ab: »Nicht nötig. Die Spurensicherung hat in der Kanzlei Thalmanns Fingerabdrücke gefunden.«
    »Tut mir Leid um den alten Halberg«, sagte Kovacz. »Auch wenn ich ihn selbst kaum als Anwalt genommen hätte, falls ich in die Verlegenheit gekommen wäre, einen Strafverteidiger zu benötigen.«
    »Thalmann scheint ja auch nicht so recht zufrieden gewesen zu sein«, sagte Berndorf. »In Wahrheit weiß ich nichts über die Motive. Nichts darüber, was in diesem Menschen vorgeht. Deswegen wollte ich Ihnen das hier zeigen.« Und ohne weiteren Kommentar reichte er Kovacz den Ordner mit den Kopien der Briefe Thalmanns und der Antworten darauf.
    Kovacz begann zu lesen. Bis auf den Schein seiner Schreibtischlampe war es dunkel im Büro. Berndorf fühlte sich entspannt und friedlich.
    »Viel hat er nicht herausgefunden«, sagte Kovacz und schloss den Ordner. »Es wäre auch zu viel verlangt.«
    »Absurd und abstrus, hat der Anstaltspsychologe die Briefe genannt«, sagte Berndorf.
    »Absurd? Abstrus? Ich weiß nicht«, antwortete Kovacz. »Wenn ich Thalmann richtig verstehe, glaubt er, dass die Nazis nach Medikamenten gesucht haben, mit denen sie ihre Arbeitssklaven und vielleicht auch ihre Soldaten in einen euphorischen Zustand versetzen konnten. Dass sie eine Art Doping wollten für das Menschenmaterial, das zur Vernichtung durch Arbeit bestimmt war. Vielleicht auch eine Volksdroge für die Helotenmenschen im Osten.«

    »Lem hat so etwas beschrieben«, sagte Berndorf.
    »Eben«, antwortete Kovacz. »Es ist Science-Fiction. Die Nazi-Ärzte hatten einen anderen Ansatz. Sie dachten als Militärmediziner. Sie wollten herausfinden, was sie gegen den Kältetod der Soldaten in Russland tun könnten. Wie man Flieger am Leben erhalten kann, die über dem Meer abgeschossen worden sind. Und so haben sie damit begonnen, Kälteversuche zu machen, Experimente mit Häftlingen, die man ins Eiswasser steckte. Bis sie nahezu oder ganz erfroren waren.«
    Berndorf hatte darüber gelesen, auch über die nackten weiblichen Häftlinge, die mit ihrer Körperwärme die Halberfrorenen wiederbeleben sollten. Aber das war nicht das, was er wissen wollte.
    »Irgendwann allerdings haben diese Kälteversuche noch eine andere Richtung genommen«, fuhr Kovacz nach einer kurzen Pause fort. »Eine Gruppe von Ärzten hatte begonnen, nach wirkungsvolleren Narkosemethoden zu suchen. Nach Methoden, mit deren Hilfe die Schockwirkung einer Operation gedämpft werden kann. Sie überlegten, wie sie Operationen an unterkühlten Organen ausführen könnten. Schließlich kamen sie darauf, dass sie dazu auf das Wärmezentrum im Gehirn einwirken müssten. Sie begannen, mit Medikamenten zu experimentieren, die dafür geeignet waren.«
    Berndorf wartete. Das Licht lag auf dem Ordner. Kovacz’ Gesicht war im Schatten kaum zu sehen.
    »Es war ein Nebenprodukt«, sagte er dann. »Die Ärzte entdeckten, dass die Versuchspersonen durch bestimmte Wirkstoffe plötzlich in den Zustand einer zunächst völlig unverständlichen Gelassenheit gerieten. Sie wurden nicht apathisch und blieben auch ansprechbar, aber so, als seien sie von dem Schicksal, das auf sie wartete und über das sie sich keine Illusionen machen konnten, völlig unberührt. Als sei es durch eine mächtige Glasscheibe von ihnen getrennt. So, wie es Thalmann beschreibt. Ich weiß nicht zuverlässig, was für
Stoffe das waren. Aber es deutet einiges darauf hin, dass Phenothiazin-Derivate erprobt worden sind.«
    Kovacz trank seine Flasche aus. »Sie haben mich gefragt, ob Thalmanns Briefe abstrus seien. Oder absurd. Sie können es selbst beantworten. Die ersten Veröffentlichungen über Phenothiazin sind 1946 erschienen. Selbstverständlich steht in diesen Publikationen kein Wort über KZ-Versuche.«
    Die beiden Männer schwiegen. Dann fragte Berndorf, warum die Ludwigsburger Zentralstelle denn nichts von diesen Versuchen wisse. »Die haben den Thalmann ja ziemlich ins Leere laufen lassen.«
    »Ganz gewiss wissen die Bescheid«, sagte Kovacz. »Nur

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