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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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unterhielten sich angeregt zwei Frauen; eine bläulich getönte Zweimeterfrau in einem grünen Pflegerinnenkittel erklärte einer jüngeren die Einzelheiten eines Streits in der Abteilung 4b, bei dem es um die Reinigung der Bettpfannen gegangen war.
    Berndorf gelang es auch im dritten Anlauf nicht, eine der beiden Frauen für sich zu interessieren. Schließlich ging er zu einer Tür, auf der »Verwaltung. Kein Zutritt« stand, öffnete sie und hielt einem Mann mit aufgeknöpfter Weste, der ihn mürrisch über einen leeren Schreibtisch hinweg anstarrte, seinen Polizeiausweis entgegen.
    Er wolle zu Herrn Kropke, »Staatsanwalt außer Dienst Ernst Kropke«. Bei dem sei doch schon jemand von der Polizei, sagte der Mann am Schreibtisch. »Aber bitte.« Dann klingelte er. Niemand kam. Schließlich ging er nach links in den Schalterraum und kam mit der Zweimeterfrau zurück. »Kropke? 4c. Zimmer 37«, sagte sie. Dann ließ sie sich herab, ihm den Weg zu zeigen.
    Das Altenzentrum Dornstadt war in den 60er-Jahren auf
der Albhochfläche unweit der Autobahn errichtet worden. Die Bäume, die man entlang der Wege zwischen den Appartementblocks und Bettentrakten gepflanzt hatten, waren inzwischen hoch genug, um im Sommer die hässlichen Fassaden ein wenig zu verdecken. Jetzt war es Winter. Im Block 4c roch es nach Krankenhaus, Desinfektionsmitteln und ungelüfteten Kleidern. Sie kamen an alten Frauen und Männern vorbei, die auf Holzstühlen in den Gängen hockten oder schief in ihren Rollstühlen hingen. Vor einem der Zimmer saß der Polizeihauptmeister Krauß auf einem Stuhl. Er stand auf und tippte mit der rechten Hand an seine Dienstmütze.
    Der wird was nützen, dachte Berndorf.
     
    Staatsanwalt a. D. Kropke lag in einem verstellbaren braunen Sessel mit Fußbank und starrte in den Fernseher. In einer Talkshow beschrieb eine dickliche brünette Frau die sexuellen Praktiken, die ihr Nachbar vor dem Mittagessen an ihr vorzunehmen pflegte.
    Berndorf stellte sich vor.
    Kropke riss seine wässerigen Augen mühsam vom Fernseher los. »Ja«, sagte er dann, »der Auflauf war heute wieder nicht in Ordnung. Kaum Schinken drin. Sagen Sie das. Ich war Erster Staatsanwalt. Ich muss mir das nicht bieten lassen. Das geht so nicht mit der Küche.«
    Berndorf versuchte zu erklären, dass ein Beamter sich um Kropkes Sicherheit kümmern werde.
    »Schön, schön, junger Mann«, sagte Kropke, »aber das mit dem Auflauf ist wirklich nicht in Ordnung. Der Beamte soll sich drum kümmern. Was sagten Sie noch, warum der kommt?«
     
    Im Ulmer Hauptbahnhof hatte Tamar mehr Glück, als an einem so nasskalten Tag zu erwarten war. Eine der Angestellten im Reisecenter, eine junge Frau, griff mit grün lackierten Fingernägeln nach dem Foto und erkannte ihn sofort. Der
Mann habe gestern am späten Nachmittag eine Fahrkarte samt ICE-Zuschlag nach München gekauft. Sie erinnere sich auch deshalb, weil der Mann umständlich nachgefragt habe, ob er einen Sitzplatz für den Zug 21.57 Uhr reservieren solle: »Ich habe ihm gesagt, dass das um diese Zeit nicht mehr nötig sei.« Der Mann habe auf sie gewirkt, sagte sie noch, »als ob er unsicher sei, wissen Sie, wie einer, der das Reisen nicht gewohnt ist«.
     
    Es hatte aufgehört zu regnen. Von den kahlen Bäumen rund um das Einfamilienhaus im Ulmer Vorort Söflingen tropfte es. Ein mittelgroßer Hund mit buschigem Fell starrte Berndorf aus gelben Augen lauernd an. Lautlos gesellte sich ein zweiter zu ihm. Die Hunde wedelten nicht.
    »Vorsicht«, sagte eine Stimme von der Haustür her. »Die sind auf den Mann dressiert.« Die Stimme gehörte einem älteren Mann mit Strickweste und in Hausschuhen, dem Vorsitzenden Richter außer Diensten Ulrich Gauggenrieder. Durchdringend pfiff er auf zwei Fingern. Die Hunde wandten sich widerstrebend von Berndorf ab und verschwanden hinter dem Haus.
    »Keine Gefahr mehr, Berndorf«, sagte Gauggenrieder. »Kommen Sie rein, ich erinner’ mich noch gut an Sie!« Dann erklärte er, dass seine Malinois die Angewohnheit hätten, niemand Fremdes auf das Grundstück zu lassen. »Das sind Belgische Schäferhunde, Berndorf, die Rasse ist voll Saft und Kraft, nicht wie der degenerierte Deutsche Schäferhund. Bei den Hunden ist es wie bei den Menschen: Wenn keine richtige Zuchtauswahl mehr stattfindet, beginnt der Abstieg.«
    In einem Wohnzimmer voller Landschafts- und Hundebilder wurde Berndorf der Ehefrau Gauggenrieder vorgestellt, einer verhärmten Frau mit aschgrauen kurzen Haaren:

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