Der Schatten des Schwans
»Das ist der Herr Berndorf, Chef der Mordkommission, ich kenn’ ihn, seit er junger Kriminalbeamter war.« Luzie Gauggenrieder bestand darauf, einen Kaffee aufzusetzen, und Berndorf
musste in der Zwischenzeit die Einzelheiten der Flucht Thalmanns und des Mordes an Halberg ausbreiten.
»An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!«, sagte Gauggenrieder. »Moderner Strafvollzug. Dass ich nicht lache. Aber das mit Halberg sieht doch eher nach einem seiner Lustbuben aus?«
Berndorf sagte, dass sie Thalmanns Fingerabdrücke in der Kanzlei gefunden hätten. Und dann, solange die Ehefrau noch in der Küche war, fügte er hinzu, dass Thalmann unberechenbar sei. »Wir können nicht ausschließen, dass noch andere Beteiligte an dem Prozess in Gefahr sind.«
Das könne schon sein, sagte Gauggenrieder und wiegte bedächtig den Kopf. »Zum Beispiel der arme alte Kropke. Aber nicht der Gauggenrieder. An meinen Hunden kommt kein Thalmann vorbei. Und deswegen kann ich auch keinen Personenschutz brauchen. Die Hunde dulden keinen Fremden im Garten. Auch keinen Polizisten.«
Dann kam Luzie Gauggenrieder und brachte Kaffee und einen aufgetauten Zwetschgenkuchen.
Im Neuen Bau breitete Tamar strahlend ihren Fahndungserfolg aus. Berndorf sagte nichts. Ihn ärgerte der Kaffee, den er in Söflingen getrunken hatte. Gauggenrieder war ein alter Faschist und nie etwas anderes gewesen, dachte er bei sich. Dann knurrte er Tamar an.
»Natürlich glaub’ ich Ihnen, dass die Fahrkartenverkäuferin mit Thalmann gesprochen hat. Und trotzdem will ich ein Belgischer Schäferhund sein, wenn Thalmann in München ist. Er ist nicht einmal in Augsburg. Er ist irgendwo, wohin man ein Ticket aus dem Automaten ziehen kann.« Er zog seine Schreibtischschublade auf und begann herumzusuchen.
»Was suchen Sie, Chef?«
»Einen Fahrplan.« Er zog ein weißes Bändchen heraus und schlug es auf. »Sehen Sie, das Streckennetz. Nach München oder nach Augsburg ist er deshalb nicht gefahren, weil er
will, dass wir glauben, er sei dort. Nach Memmingen und Kempten nicht, weil das zu nahe an Mariazell liegt. Nach Heidenheim nicht, weil er von dort aus nirgendwohin kommt.«
»Hier«, Berndorf legte den Zeigefinger auf den Plan, »er ist nach Plochingen gefahren. Liegt zwischen Stuttgart und Ulm, in Stuttgart ist seine Tochter, hier hat er seine Rechnungen offen, und jederzeit ist er da oder dort. Oder er steigt von der S-Bahn in den ICE um und fährt sonst wohin.«
Tamar schaute ihn zweifelnd an.
»Natürlich weiß ich nicht wirklich, ob Thalmann in Plochingen ist. Vielleicht ist er auch in Ehingen. Oder in Geislingen. Nur – ich an seiner Stelle wäre gestern Abend nach Plochingen gefahren.«
Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Berndorf nahm ab und runzelte die Stirn. »Wie Sie meinen«, sagte er dann. »Also in einer halben Stunde.« Das sei Englin gewesen, erklärte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Er will, dass ich ihn zu diesem Gutachter Twienholt begleite. Sozusagen als sein Hol-mal-den-Wagen-Harry.« Dann nahm er den Hörer wieder auf und tippte Frentzels Durchwahl beim Tagblatt ein. Eine ihm unbekannte Stimme meldete sich und sagte, Frentzel sei in der Cafeteria, aber man könne ihn dort ans Telefon rufen. Schließlich hatte Berndorf den Gerichtsreporter am Apparat. »Sie können mir noch einen Gefallen tun«, sagte er.
»Immer zu Diensten«, sagte Frentzel. »Soll ich Sie für Ihren Fernsehauftritt bauchpinseln?« Er klang schon wieder sehr aufgekratzt. Berndorf bat, ihm lieber im Tagblatt-Archiv ein paar Informationen über den emeritierten Ulmer Universitätsprofessor Gustav Twienholt herauszusuchen und sie ihm vorzulesen. »Wann?«
»Geht es in der nächsten Viertelstunde?«
Dann legte Berndorf wieder auf und schaute Tamar an. »Sagen Sie mal«, sagte er dann, »haben Sie die Thalmann-Tochter eigentlich danach gefragt, ob sie von irgendjemandem Geld bekommen hat?«
Tamar wurde rot. Dann sah sie, dass Berndorf es bemerkte. »Nein«, sagte sie. »Doch. Ja. Ich habe sie gefragt. Aber sie wollte nichts sagen. Das heißt, ich wusste es ja schon. Von ihrer Großmutter. Der hat angeblich eine Frau das Geld gebracht. Ich hätte das alles in den Bericht schreiben müssen.«
»Hätten Sie«, sagte Berndorf nachdenklich und überlegte, warum die junge Frau ihm gegenüber so pfefferschotenrot geworden war. »Die Geldbotin war übrigens die Sekretärin des Frankfurter Anwalts«, sagte er dann. »Kastner hat es mir heute Mittag gesagt. Die
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