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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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können wir nur ahnen«, antwortete Berndorf. »Vielleicht wollten sie wissen, was in der Dokumentation stand, die Hendriksen angeblich vernichtet hat. Denn den konnten sie nicht mehr befragen.«
    Berndorf schob Tamar seinen Ordner zu und zeigte auf einen darin abgehefteten Totenschein. »Der Oberarzt Hendrik Hendriksen ist am 27. April 1945 in der Nähe von Wengenried /Landkreis Ravensburg bei einem Angriff alliierter Tiefflieger getötet worden.«
    Der Totenschein war noch am gleichen Tag ausgestellt worden. Berndorf dachte nach. Irgendetwas war merkwürdig an diesem Todesfall.
    »Vielleicht haben Sie doch Recht«, sagte Tamar langsam. »Hendriksen hat die Unterlagen nicht vernichtet. Und Samnacher hat sie den Amerikanern mitgebracht.«
    »Das nun wieder nicht«, antwortete Berndorf. »Samnacher war ja in Haft, bis er in die USA überstellt wurde. Ich glaube nicht, dass er da die ganze Zeit eine wissenschaftliche Dokumentation mit sich führen konnte. Die wäre ihm schon vorher abgenommen worden. Aber den Amerikanern konnte er auch so einiges erzählen.«
    Tamar verzog das Gesicht. »Wo ist das Material dann aber geblieben?«
    »Wie es aussieht,werden wir es nicht mehr erfahren. Es ist auch nicht unser Fall«, sagte Berndorf. »Es war der Fall des Propheten.«
     
    Anderthalb Stunden waren vergangen. Berndorf schwieg, in sich gekehrt. Tamar überlegte sich, was für Menschen diese Ärzte gewesen sein mochten, die einer jungen Frau die Beine bis auf die Knochen aufschnitten und Glassplitter in die Wunde steckten, nur um zu sehen, wie die Frau langsam und grauenvoll an den Entzündungen zugrunde ging. Und die das menschliche Versuchstier töten ließen, wenn der Körper wider Erwarten nicht zu atmen aufhören wollte. Die einen Menschen
mit Beruhigungsmitteln zuschütten, um ihn dann langsam in einem Eisbad erfrieren zu lassen.
    Sie brachten die Bände zurück. Ob sie einen Anhaltspunkt gefunden hätten, fragte Staatsanwalt Heuchert. Berndorf verneinte.
    »Wenn es Querverbindungen zur Industrie gibt«, sagte Heuchert, »dann sind die Spuren sehr sorgfältig verwischt worden. Zu sorgfältig für uns.«

Samstag, 31. Januar, 14 Uhr
    Noch immer schweigend fuhren Tamar und Berndorf nach Stuttgart. Immer wieder regnete es, und Tamar musste den Scheibenwischer einschalten. »Nach welchen Maßstäben können wir eigentlich menschliche Schuld messen?«, fragte sie unvermittelt.
    »Nach denen, die man durchsetzen kann«, antwortete Berndorf. Er redet wie ein alter resignierter Mann, dachte Tamar. Aber das ist er ja auch.
    »Das genügt mir nicht«, sagte sie dann. »Wenn es nun Schuld gibt, die sich jedem Maßstab entzieht – mit welchem Recht können wir diesen Begriff dann überhaupt noch auf irgendetwas anwenden?«
    »Ich werde mich hüten«, erwiderte er unerwartet heftig. »Mein Job ist es, herauszufinden, wo dieser Thalmann steckt und was er vorhat. Ich möchte eine Vorstellung davon haben, wie er denkt und was er als Nächstes tut. Schuld? Den Teufel werd ich tun und von Thalmanns Schuld reden.«
    »Und was ist mit diesen Remsheimer und Hendriksen und Samnacher? Hüten Sie sich da auch, von deren Schuld zu reden?«
    »Nein«, sagte Berndorf verlegen. »Aber es gibt Wörter, die sehr schnell hohl klingen. Wenn dieser Hendriksen überlebt hätte: Glauben Sie, Sie könnten heute mit ihm über seine
Schuld sprechen? Ich denke, das Wort würde an ihm abprallen wie eine Papierkugel an einer Steinmauer.«
    »Das können Sie nun wirklich nicht wissen«, wandte Tamar ein.
    »Doch«, sagte Berndorf. »Von den Tätern haben ja genug überlebt, haben es sich im Nachkriegsdeutschland oder anderswo bequem und komfortabel eingerichtet, von niemandem behelligt. Die haben nachts gut geschlafen. Waren mit sich im Reinen. Hatten ein gutes Gewissen und haben es noch immer, wenn sie nicht gestorben sind.« Dass jemand wie dieser Professor Remsheimer für ein paar Jahre in den Bau einfuhr, dachte Berndorf, war sogar eine Ausnahme gewesen. Aber was sollte er der jungen Frau da von der Adenauer-Republik erzählen! Niemand will so etwas mehr hören, so wenig wie Opas Geschichten vom Russlandfeldzug.
    Es regnete stärker. Die Scheibenwischer kämpften mit den Wassermassen. Von den Autos vor ihnen schimmerte das Rot der Heckleuchten nur noch verschwommen durch den Regen. Tamar hielt jetzt das Steuer mit beiden Händen. »Ich muss mehr darüber lesen. Eigentlich dachte ich, die Zeit von damals hat mit mir nichts mehr zu tun.«
    Durch die

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