Der Schatten des Schwans
Wasserschleier leuchtete es rot auf. Tamar bremste den Wagen ab. »Aber was wissen wir denn jetzt über das, was Thalmann vorhat oder tun wird?«, fragte sie unvermittelt.
Nichts, dachte Berndorf. »Über die Versuche selbst haben wir nicht viel erfahren«, sagte er dann. »Wir wissen nicht einmal, womit Hendriksen und dieser Samnacher ihre menschlichen Versuchskaninchen ruhig gestellt haben. Wir wissen nur, dass Thalmann mit seinem Verdacht wohl nicht so ganz falsch liegt. Und immerhin haben wir nachgeprüft, ob es weitere Kandidaten gibt. Es hat sich kein Name aufgedrängt.«
Tamar runzelte die Stirn. »Kandidaten? Sie meinen: fürs Halsabschneiden.«
Vor dem Engelberg-Tunnel hatte sich ein kurzer Stau gebildet. Trotzdem würden sie in einer halben Stunde in der Galerie sein, wo sie sich mit Hannah treffen wollten. Die ganze Zeit über hatte Tamar den Gedanken daran verdrängt. Jetzt nahm er ihr kurz die Luft. Ich werde dastehen und es nicht ertragen. Es darf nicht alles kaputt sein. Was ist das eigentlich, was nicht kaputt sein soll?
Die Stuttgarter Innenstadt lag schon verlassen im Nieselregen. Wie bei Tamars erstem Besuch trug Hannah einen Rock und einen schwarzen Rollkragenpullover, der ihren Hals verhüllte. Sie saßen zu dritt in einem kleinen Besprechungszimmer, in dem der Galerist sonst Verlagsvertreter und Käufer empfing. An der Wand hing ein großer Rückenakt eines jungen Mannes. Der Galerist selbst hatte sich diskret ins Wochenende verabschiedet.
Berndorf erklärte, warum sie gekommen waren. Hannah hörte mit aufmerksamem Gesicht zu. »Dass mein Vater diesen armen Anwalt getötet hat, ist aber nicht bewiesen?«, fragte sie dann kühl. Jeden Blick auf Tamar hatte sie vermieden.
Nein, bewiesen sei nichts, sagte Berndorf. Dann fragte er ruhig: »Haben Sie in den letzten Monaten oder Jahren Geld von dritter Seite erhalten?«
Hannah verzog keine Miene. »Das wissen Sie doch. Meine Großmutter hat es mir gegeben. Sie hat gesagt, es sei von einer Schulfreundin meiner Mutter. Ich habe es geglaubt. Ich habe es sogar gerne geglaubt.«
Berndorf hob beschwichtigend die Hand. »Kein Vorwurf. Es ist auch nichts dabei. Woher sollten Sie wissen, dass ein Strafgefangener in der Haft Geld beiseite schaffen kann. Und wenn Sie es in gutem Glauben angenommen haben, durften Sie es auch ausgeben.«
Deswegen aber seien sie beide, er und seine Kollegin Wegenast, nicht gekommen. »Wir denken, dass Ihr Vater irgendwann mit Ihnen Kontakt aufnehmen wird. Telefonisch oder brieflich. Wir wollen Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie darauf
reagieren sollen. Trotzdem möchte ich Sie bitten, sich nicht auf eine persönliche Begegnung einzulassen. Aber Sie könnten ihm, wenn es sich ergibt, eine Botschaft zukommen lassen: Ihr Vater soll sich überlegen, ob er mit mir reden will. Beispielsweise über Psychopharmaka und die Forschungsgruppe des Professor Remsheimer.«
»Warum sollte mein Vater mit Ihnen reden wollen?«, fragte Hannah zornig. »Sie wollen ihn doch nur hinter Gitter bringen.« Allerdings, dachte Tamar.
»Sicher will ich das«, sagte Berndorf ruhig. »Trotzdem könnten Sie ihm ausrichten, was ich Ihnen gesagt habe. Wenn es sich ergeben sollte.«
Auf der Rückfahrt, kurz vor dem Aufstieg zum Aichelberg, sagte Tamar, so ganz habe sie nicht verstanden, worauf Berndorf hinauswolle.
»Ja«, sagte Berndorf, »manchmal geht das einem so. Dass man nicht versteht, worauf der andere hinauswill. Oder warum jemand ganz plötzlich überhaupt nichts mehr redet.«
Tamar schwieg. Allerdings hatte sie bei dem Gespräch mit Hannah keinen Ton gesagt. Was aber ging das Berndorf an? Ganz zuletzt hatte ihr Hannah doch einen Blick zugeworfen, forschend und schmerzlich, wie man es womöglich nur aus zwei ungleichen Augen tun kann, dachte Tamar. Dann fiel ihr ein, dass sie ihren Brief an Hannah noch nicht einmal abgeschickt hatte.
»Ich denke, dass diese junge Frau eine starke Persönlichkeit ist«, sagte Berndorf. »Vielleicht kann sie uns helfen, ihren Vater zum Aufgeben zu bewegen.«
»Einspruch«, protestierte Tamar. »Wir haben Hannah zu schützen. Wir haben nicht das Recht, sie als Werkzeug oder Köder zu benutzen.«
»Davon hab’ ich kein Wort gesagt«, antwortete Berndorf. »Sie soll Thalmann nur sagen, dass er mit mir reden kann. Denn mit Sicherheit wird er versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen.«
Tamar sagte nichts mehr. Die Tafelberge der Alb versanken in der Dämmerung.
In der Brauereigastwirtschaft im
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