Der Schatten des Schwans
dass Waltraut Blickle-Schaich dann noch etwas fiebriger, erregter aussehen müßte. Also war wieder etwas mit dem Sohn, und gleich wird sie den Einsatz verpatzen.
Es war dann der dritte Akkord, der danebenging. O Herr, Du musst mich auch nicht immer beim Wort nehmen, dachte Rübsam und verlas den Wochenspruch aus dem 1. Korintherbrief, Kapitel 4: »Der Herr wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen.«
Ich weiß nicht, ob ich mir das wirklich wünschen soll, dachte Rübsam und blickte noch einmal über seine grau und hinfällig gewordene Gemeinde. Rechts saßen streng die zwei Diakonissen, die über die Rechtgläubigkeit seiner Predigten wachten. Links hinten hatte ein Mann mit grau durchsetztem dunklen Haar und einem hageren Gesicht Platz genommen. Rübsam hatte ihn noch nie gesehen. Es muss jemand sein, der hier einen Angehörigen besucht, dachte er.
Rübsam hatte über das Licht predigen wollen, in das wir alle eingehen. Aber dann fand er das doch unpassend für ein Altenheim und erzählte, wie es war, als es vor drei Jahren einen Stromausfall gegeben hatte.
Vor dem Landeanflug in Dresden klappte Berndorf das Taschenbuch mit leichtem Bedauern zu. Er war gerade an einen dieser kantigen Sätze geraten, die den alten Franzosen so irritierend machten: »Nun erhalten sich aber die Gesetze in Ansehen, nicht weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind.« In den vier Jahrhunderten seit Montaignes Tod hätte
sich daran einiges ändern müssen, dachte Berndorf. Geändert hatte sich vor allem, dass die Gesetze überhaupt kein Ansehen mehr besaßen. Und dass sich die Gesellschaft schon lange nicht mehr darum scherte, ob sie gerecht war oder nicht. Es war schon viel, wenn wenigstens das himmelschreiendste Unrecht verhindert wurde. Oder bestraft. Aber manchmal, dachte Berndorf, gelingt nicht einmal das. Holpernd setzte der City-Jet auf. Berndorf freute sich auf die Zugfahrt.
Der Gottesdienst war überstanden. Johannes Rübsam sprach den Schlusssegen, und die Organistin Blickle-Schaich verpatzte das Amen. Rübsam ging in die kleine Sakristei und zog seinen Talar aus. Dann stellte er das Abendmahlsgeschirr bereit, weil er danach noch zu einigen bettlägerigen Gemeindegliedern wollte. Draußen raschelte die Organistin. Offenbar brauchte sie eine tröstende Ansprache. Wie Du meinst, Herr, dachte Rübsam.
Es war in der Tat Alexander, der Sohn, gewesen. Diesmal war es nicht die Kehrwoche und auch nicht der Arm, den er sich deswegen gebrochen hatte. Vielmehr hatten Blickle-Schaichs die Polizei im Haus gehabt. »Dieser unglaubliche Mensch hat herumgeschrien, Alexander hätte Haschisch gekauft. Und die ganze Wohnung haben sie auf den Kopf gestellt, stellen Sie sich das vor, bei uns, am Samstagnachmittag, dass es alle Nachbarn sehen. Wie kann denn der Alexander so etwas rauchen, das ist doch ein so unwissender Bub, den haben sie doch nur verführt und angestiftet!«
Dann fing sie an zu heulen. Als sie fertig war, beschrieb sie die Hausdurchsuchung. »Und Ingo stand dabei und hat immer nur auf den Fußballen gewippt.« Ingo Schaich war Studiendirektor für Französisch und Erdkunde, fiel es Rübsam ein. Falls das etwas erklärt, dachte er dann.
Polizeihauptmeister Krauser hatte die »Bild am Sonntag« ausgelesen. Er überlegte, ob er sich auf dem Gang ein wenig die Beine vertreten solle. Oder ob er nicht doch gleich zum alten Kropke ins Zimmer gehen würde, Lastwagenrennen angucken. Ein Mann kam vom Eingang und über den Gang auf ihn zu. Er war in einen schwarzen Talar gekleidet und trug mit der rechten Hand ein Tablett mit einem Kelch und mit Keksen. Nicht mit Keksen, fiel es Krauser ein: mit Oblaten.
»Grüß Gott«, sagte der Mann im Talar. »Sie geben auf den Herrn Kropke Acht. Das ist aber recht.«
»Krauser«, sagte Krauser und schüttelte die linke Hand, die der Mann ihm reichte.
»Ich bring’ dem Herrn Kropke das Abendmahl«, sagte der Mann. »Er kriegt es immer nach dem Sonntagsgottesdienst.«
»Das kann einfach nicht sein«, sagte Johannes Rübsam. »Ich habe meinen Talar und das Abendmahlsgeschirr in der Sakristei gelassen und ganz kurz mit der Organistin geredet, zehn Minuten vielleicht, und wie ich zurückkomme, ist alles weg! Wer stiehlt denn so etwas? In einem Altenheim?«
Der Verwalter sah ihn missmutig an. »Also geben Sie uns nicht die Schuld, wenn Sie Ihre Sachen nicht zusammenhalten können«, sagte er dann. Rübsam
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