Der Schatten des Schwans
blickte hoch. »Christophsbrunn? Ich dachte, nach den Protesten gegen die Euthanasie-Morde sei dort nichts mehr passiert.«
»Das dachten wir auch«, sagte Heuchert. »Remsheimer war ja noch 1945 im Dachau-Prozess zum Tode verurteilt worden. Man hat ihn dann aber begnadigt und 1952 freigelassen. Die Versuche in Christophsbrunn waren im Dachau-Prozess
nicht zur Sprache gekommen, und auch wir erfuhren erst durch eine Strafanzeige davon, die eine Vereinigung ehemaliger französischer Kriegsgefangener 1959 erstattet hat.«
»Daraufhin wurde dann ermittelt?«, fragte Tamar.
»Leider mit keinem großen Erfolg«, antwortete Heuchert ausdruckslos. »Wir haben ungefähr dreißig Totenscheine gefunden, sämtlich auf russische und französische Kriegsgefangene ausgestellt, die in Christophsbrunn in den letzten Kriegsmonaten an Herzversagen oder Lungenentzündung gestorben sein sollen. Was mit ihnen gemacht worden ist, können wir nur ahnen.«
»Das Verfahren ist also eingestellt worden«, stellte Berndorf fest.
»Es blieb uns nichts anderes übrig«, sagte Heuchert. »Remsheimer setzte sich ins Ausland ab, kaum dass die Ermittlungen aufgenommen worden waren. Die Presse hat damals unterstellt, er sei aus den Kreisen der Justiz gewarnt worden.« Er warf Berndorf einen unbeteiligten Blick zu. »Laut Mitteilung der deutschen Botschaft in Damaskus ist Professor Hannsheinrich Remsheimer am 6. Juli 1982 in Aleppo verstorben.«
»Friedlich und in seinem Bett, nehme ich an«, sagte Berndorf. »Das hatten wir nicht mehr zu ermitteln«, antwortete Heuchert trocken. »Übrigens hat sich das seinerzeitige Ermittlungsverfahren noch gegen weitere Beschuldigte gerichtet, gegen zwei von Remsheimers Oberärzten.« Er machte eine Pause. »Aber was wollen Sie? Der eine lebte in Buenos Aires und hatte 1959 längst die argentinische Staatsbürgerschaft erworben, und der andere war bei einem Fliegerangriff kurz vor Kriegsende ums Leben gekommen. Aber überzeugen Sie sich selbst.« Dann ging er.
Berndorf setzte sich an den Tisch und zog einen der Ordner zu sich her. Auch Tamar nahm sich einen Stuhl. »Chef, wonach suchen wir eigentlich?«, fragte sie dann.
»Ich weiß es nicht«, sagte Berndorf. »Namen, die Thalmann interessieren könnten. Querverbindungen zur Pharmaindustrie, wenn sich solche Verbindungen finden lassen.«
In dem Ordner, den Tamar aufgeschlagen hatte, waren Zeugenaussagen, Gutachten und Dokumente aus dem Dachau-Hauptprozess vom Dezember 1945 und dem Buchenwald-Prozess vom August 1947 abgeheftet. Fotografien ergänzten das Material. Sie zeigten nackte Körper mit fürchterlichen offenen Wunden, ausgemergelte Überlebende und Menschen, die tot oder nahe dem Tode in den Gurten hingen, in die man sie geschnallt hatte. In den Aussagen wurde beschrieben, wie KZ-Häftlinge mit Gasbrand und mit Malaria infiziert wurden, welche Experimente man mit ihnen in Unterdruckkammern vornahm, und wie man sie in Eisbäder tauchte, bis sie unmittelbar vor dem Erfrierungstod standen.
Einer der dafür verantwortlichen Ärzte war der Chirurg und Universitätsdozent Hannsheinrich Remsheimer. Aus den Zeugenaussagen ging hervor, dass auch einer seiner Assistenten, ein Oberarzt, an den Versuchen mitgewirkt hatte. Allerdings gehörte dieser Oberarzt nicht zu den Dachauer Angeklagten. Tamar hatte aus der Fachhochschule die Angewohnheit behalten, sich grundsätzlich Notizen zu machen. Sie notierte sich den Namen des Assistenten. Es war ein Dr. med. Hendrik Hendriksen.
In einem zweiten Ordner stieß Tamar erneut auf diesen Namen. In einem als »Geheim!« gekennzeichneten Aktenvermerk vom Juli 1944 wurde Remsheimer beauftragt, »die bei den bisherigen Abkühlungsversuchen erzielten Ergebnisse im Hinblick auf eine alsbald verfügbare Medikation zu überprüfen«. Zu diesem Zweck wurden der Forschungsgruppe Remsheimer ein Dr. Luitbold Samnacher, Neurologe an der Universität Jena, sowie der Oberarzt Dr. Hendriksen beigeordnet. Der Aktenvermerk stammte aus der Sanitätsverwaltung der Wehrmacht, von der schon Heuchert gesprochen hatte.
Die folgenden Seiten ließen Tamar allerdings immer ratloser werden. Die Forschungsgruppe nahm zwar im August 1944 in Christophsbrunn auf der Schwäbischen Alb unter dem Codenamen »Schwanensee« ihre Arbeit auf. Doch die Berichte, die zunächst Samnacher, später aber zumeist Hendriksen unterzeichnet hatte, waren nichts sagend oder verschlüsselt. Meist bezogen sie sich auf eine vorhergegangene Unterredung, oder sie
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