Der Schatten des Schwans
kündigten einen mündlichen Bericht an. Sofern von Medikamenten die Rede war, wurden nur Kennziffern angegeben. So schrieb Hendriksen kurz vor Jahresende 1944 aus Christophsbrunn an Remsheimer, »dass die mit dem Präparat PHT 24 an fünf Probanden erzielten Ergebnisse außerordentlich erfolgversprechend sind«. Er bitte deshalb, Remsheimer möge sich beim Wehrkreiskommando Stuttgart um Zuteilung weiterer Kriegsgefangener als Probanden verwenden.
»Ich begreife das nicht«, sagte Tamar. »Was haben die da getan? Das Gleiche wie in Dachau?«
»Ich nehme es an«, sagte Berndorf. »Aber sie waren vorsichtiger geworden. Das waren ja keine dummen Leute. 1944 wussten sie längst, dass der Krieg verloren war. Also haben sie es möglichst vermieden, sich selbst zu belasten.«
»Verstehe ich nicht«, sagte Tamar. »Nach dem, was die in Dachau getan haben, konnten die doch nichts mehr verlieren.«
»Vielleicht rechneten sie damit, dass in Dachau keine Zeugen überleben würden.« Aber da war noch etwas anderes, dachte Berndorf. »Christophsbrunn hatte einen düsteren Ruf. Bis Ende 1940 sind dort mehrere tausend Menschen umgebracht worden, Geisteskranke oder solche, die man dafür hielt. Pflegebedürftige. Verwirrte. Schließlich protestierten die Kirchen. Nach 1941 hörten die Euthanasie-Morde zwar nicht überall auf, aber in Christophsbrunn. Ich könnte mir vorstellen, dass man die Remsheimer-Gruppe wegen dieser Vorgeschichte angewiesen hat, zurückhaltend aufzutreten.«
Tamar wandte sich wieder dem Ordner zu, den sie aufgeschlagen hatte. Sie fand die Strafanzeige gegen Remsheimer, die 1959 bei der Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart eingegangen war, und im Anschluss daran die Aussagen von Zeugen, die um 1960 von der Kriminalpolizei vernommen worden waren. Sehr viel hatten die Kollegen nicht herausgefunden, dachte sie. Manchmal läuft man gegen Mauern. Vielleicht war das so ein Fall.
»Chef«, sagte sie plötzlich. »Da hat jemand wirklich Tabula rasa gemacht. Ich habe hier den Vermerk eines Kollegen, datiert vom April 1960. Danach gibt es laut Auskunft des Universitätsarchivs Tübingen keinerlei Unterlagen über ein Forschungsprojekt in Christophsbrunn. Und es kommt noch besser. Weder von Remsheimer noch von Hendriksen oder Samnacher sind Personalakten vorhanden. ›Wie die Universitätsverwaltung erklärt, müssen diese Unterlagen bereits 1945 nach dem Zusammenbruch von dem damaligen französischen Militär-Gouvernement beschlagnahmt worden sein‹, heißt es in dem Vermerk. Unser Kollege hat das für eine Ausrede gehalten.«
Sie zeigte Berndorf eine kurze Notiz, die auf einer Schreibmaschine mit schadhaften kursiven Typen getippt war:
»Der aus Frankreich erstatteten Anzeige liegen keine näheren Angaben über die Beschuldigten zugrunde. Das deutet darauf hin, dass die betreffenden Personalakten dortseitig nicht bekannt sind. An der Auskunft der Universitätsverwaltung bestehen daher Zweifel. Ich bitte hiermit, die französischen Justizbehörden um Amtshilfe zu ersuchen. Gezeichnet J. Seiffert, Kriminalinspektor.«
»Ach Gott«, sagte Berndorf. Es klang fast gerührt. »Der Prophet Jonas. Gottesfürchtig und misstrauisch bis auf die Knochen.«
»Sie kannten ihn?«
»Anfang der 70er-Jahre habe ich auf dem Präsidium in Stuttgart mit ihm zu tun gehabt«, sagte Berndorf. »Jonas Seiffert
gehörte zu den Stundenleuten, wie man auf der Alb die Pietisten nennt. Wenn er keinen Dienst hatte, predigte er auf dem Wochenmarkt.«
»Und?«, fragte Tamar. »Hatte er Zulauf?«
»Ich glaube nicht. Im Grunde seines Älbler Herzens hat er die Stadt verabscheut. Die Menschen hier verlieren ihre Seele, und sie merken es nicht, hat er mir einmal gesagt.«
Tamar las weiter. Auf das Ersuchen um Amtshilfe hin hatte die Pariser Generalstaatsanwaltschaft im Juni 1961 mitgeteilt, dass bei ihr über Remsheimer, Hendriksen oder Samnacher keinerlei Erkenntnisse vorlägen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Seiffert immerhin mehrere Zeugen ausfindig gemacht, zwei der in Christophsbrunn tätig gewesenen Pfleger, außerdem zwei Frauen, eine hatte in der Küche, die andere in der Verwaltung gearbeitet.
An Remsheimer erinnerten sich die Zeugen damals kaum mehr, wohl aber an die Oberärzte Samnacher und Hendriksen. »Vor allem der Herr Oberarzt Hendriksen ist sehr bestimmt aufgetreten und hat keine Ungenauigkeit durchgehen lassen«, hatte einer der Pfleger zu Protokoll gegeben: »Er kam aus Flensburg und hat auch sehr darauf geachtet, dass wir
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