Der Schatten des Schwans
Söflinger Klosterhof bestellte sich ein einzelner Gast eine Tellersulz mit Bratkartoffeln und ein Weizenbier. Er war müde, und er hatte Hunger. Er war am Nachmittag in Dornstadt gewesen und dann mit dem Bus nach Ulm zurückgefahren. Lange war er danach durch die Straßen gelaufen, bis er den Bungalow mit den heruntergelassenen Rolläden gefunden hatte.
Der Bungalow lag unverhofft günstig, denn durch die Gärten konnte man zu dem Haus mit den Bäumen und den beiden Hunden gelangen, ohne die Straße überqueren zu müssen. Der Namen, der am Türschild des Bungalows stand, war im Telefonbuch eingetragen. Aber wenn er anrief, meldete sich ein automatischer Anrufbeantworter. Der Bungalow war also bewohnt, doch die Bewohner mussten verreist sein. Er wusste, dass es sich manche Leute heute leisten konnten, im Winter in den Süden zu fliegen. Nach Teneriffa oder Lanzarote. Das hätte seiner kleinen Tochter sicher auch gefallen, damals, als sie noch eine Familie waren. Nur war damals an so etwas nicht zu denken.
Sonntag, 1. Februar
Der Tag hatte grau begonnen und sah nicht aus, als ob er daran etwas ändern wolle. Sowohl Tamar wie auch Oberarzt Bastian Burgmair hatten Sonntagsdienst. Trotzdem hätten sie am Morgen ein bisschen Spaß haben können, fand Burgmair. Aber Tamar war gerade ziemlich zickig. Schweigend frühstückten sie. Burgmair fiel auf, dass sie die meiste Zeit gedankenverloren aus dem Fenster und in den grauen Winterhimmel starrte. Vielleicht sollte er mit ihr im Februar eine Woche in den Skiurlaub ins Montafon fahren, überlegte er. In das Hotel, in dem sie zum ersten Mal miteinander ins Bett gegangen waren.
Berndorf war am Morgen nach Stuttgart-Echterdingen gefahren. In seinem Gepäck hatte er den Bericht über das Versteck im Warschau-Express; Wasmer hatte Fotos beigefügt und – in sorgfältig beschrifteten Klarsichthüllen – unterschiedliche Schrauben und zwei Scharniere, die offenbar von der Tür des Verstecks und einer Klappbank stammten.
Der City-Jet nach Dresden war nur halb besetzt. Als die Maschine gestartet war und über den Fildern nach Norden abdrehte, kippte er seinen Sitz zurück und schlug in seinem Montaigne das Kapitel über das Bereuen auf. Er wollte es noch einmal von vorne lesen. Fast sofort blieb er an dem Satz hängen:
»Ich schildere nicht das Sein, ich schildre das Unterwegssein. . .« Ein Vibrieren lief durch den Jet. Da schau her, dachte Berndorf. Das Schaukeln der Dinge.
Im Altenzentrum hatte es Nudelbouillon gegeben, dann einen Gänsebraten mit Rotkohl und Semmelknödel und zum Nachtisch das gemischte Eis, wie immer an den Sonntagen. Kropke hatte Schonkost bestellt, Reis mit Kalbsgeschnetzeltem, der Reis war klebrig und die Körner setzten sich unter seiner Gebissplatte fest. Ob er es dem Polizisten draußen sagen sollte? Es war der Dickere von den beiden, die jetzt tagsüber zu ihm kamen. Im Fernsehen übertrugen sie ein Lastwagenrennen. Früher gab es das nicht. Irgendetwas war unter seiner Gebissplatte. Wenn er wieder wusste, was es war, würde er es dem Polizisten sagen. Es war ein Polizeihauptmeister, er brauchte ihn nicht mit dem Namen anzureden.
Im Neuen Bau sah Tamar die Berichte der Samstagsschicht durch. Ein Handtaschenraub in der Fußgängerzone, drei Wohnungseinbrüche auf dem weißen Eselsberg, und in Dornstadt im Norden Ulms war ein 17-Jähriger mit 20 Gramm Haschisch festgenommen worden, die er sich von Blochers notorischem V-Mann Hugler hatte andrehen lassen. Dann zwang sie sich an die Schreibmaschine. Sie hatte noch die ganzen Berichte der letzten Tage zu schreiben, so schwer ihr der Kopf auch von ganz anderen Dingen war. Sie musste an Hannah denken, und dass sie selbst es ganz gewiss keinen Tag länger mit ihrem Oberarzt aushielte.
Wenigstens hatte sie den Brief eingeworfen.
In der Kapelle des Altenzentrums dämmerten die alten Leute vor sich hin, vom schweren Sonntagsessen an den Rand des Schlafs gedrückt. Pfarrer Johannes Rübsam ließ einen gottergebenen Blick über seine Gemeinde schweifen, hin zu dem Wandbehang ihm gegenüber, auf dem der Evangelische
Frauenkreis die Speisung der 5000 dargestellt hatte, mit fünf Broten und zwei Fischen versinnbildlicht. Es war der vierte Sonntag nach Epiphanias, und die Organistin Blickle-Schaich kam wieder einmal zu spät.
Dann huschte sie herein, mit vorwurfsvollen Augen im – wie es Rübsam schien – verheulten Gesicht. Ist die Tochter schwanger, überlegte Rübsam und entschied,
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