Der Schatten des Schwans
von schweren Simsen eingefasst waren. Ab und zu kamen sie an einem Video-Shop vorbei, im Fenster einer kleinen Kneipe hing ein Transparent des Fanclubs der Eishockeymannschaft von Weißwasser. Die Dämmerung hatte eingesetzt, aber die meisten Häuser blieben dunkel.
In den Altbauwohnungen lebten nur noch wenige Menschen, erklärte Rauwolf. »Wissen Sie, die Neubauwohnungen in den Plattenbauten haben Fernheizung, eigenes Bad und WC. Hier gibt es oft noch das Klo auf der Etage.« Vor einem der Häuser hielt er an und schloss die Haustür auf. Die meisten der Briefkästen im Hausflur trugen keine Namensschilder mehr, und fast alle waren mit Prospekten verstopft. Es roch feucht und muffig.
Sie stiegen in den dritten Stock hoch und blieben vor einer Wohnungstür stehen, die mit Papierstreifen versiegelt war. Rauwolf schnitt die Siegel auf und öffnete. Sie traten in eine geräumige Diele ein, von der mehrere Türen abgingen. Berndorf registrierte hohe Decken und schwere, altmodische, fast gutbürgerlich anmutende Möbel. Im Schlafzimmer stand ein Doppelbett mit ordentlich aufgeschüttelten Kopfkissen, und im Wohnzimmer fand sich eine braunlederne Sitzgruppe vor einem Fernsehgerät mit Videorecorder. Die gläserne Platte des Couchtisches war leicht angestaubt. Dennoch sah die Wohnung aufgeräumt aus und so, als sei regelmäßig sauber gemacht worden. In einem Arbeitszimmer war ein Personalcomputer aufgebaut. Die Seitenwand nahm ein Bücherregal ein, dessen unterste Reihe nicht ganz mit Aktenordnern ausgefüllt war.
Berndorf musterte das Bücherregal. Den meisten Platz nahm Fachliteratur über das Eisenbahnwesen ein, darunter mehrere Bände über die deutschen Bahnhöfe und ihre Architektur sowie eine Sammlung von Fahrplänen der Reichsbahn von
1922 bis 1945. Außerdem fand er Kriminalromane und Bücher zu Politik, Zeit- und Militärgeschichte, alles streng alphabetisch geordnet, nach Marx’ »Kapital« kam eine Gesamtausgabe von Mehring, einige Bände weiter die ausgewählten Werke von Lenin. Plötzlich stutzte er.
»Schauen Sie«, sagte er zu Rauwolf. »Ambler, Andric, Andrzejewski, Aragon, Balzac. Dann Clausewitz, Chesterton, Cartier, Bulgakow, Bebel.«
»Eh?« fragte Rauwolf.
»Die Reihenfolge ist plötzlich unterbrochen und umgekehrt«, sagte Berndorf. »Es sind gerade so viel Bücher, wie man als Stapel mit den Händen herausnehmen kann.« Er maß es mit seinen Händen nach. »Der Mann, der hier gewohnt hat, war ein außerordentlich genauer und penibler Charakter. Man sieht es auf den ersten Blick. Er hat die Bücher alphabetisch geordnet, und weil er ein Ordnungsfanatiker war, hat er diese Reihenfolge auch nicht geändert. Aber – jemand hat die Bücher herausgenommen und den Stapel in der falschen Reihenfolge wieder zurückgestellt.«
Rauwolf sah ihn stirnrunzelnd an. »Und warum sollte man so etwas tun?«
»Das passiert, wenn man einen Stapel Bücher herausnimmt und sie durchsieht oder dahinter etwas sucht. Je nachdem, wie man den Stapel absetzt, wird das letzte Buch das erste, das wieder zurückgestellt wird. Ob Sie veranlassen könnten, das Bücherregal zu fotografieren?«
»Es hat also doch jemand die Wohnung durchsucht. Womöglich der Mann, der das Telefon nicht abgenommen hat?«, fragte Rauwolf. Berndorf verkniff es sich, »my dear Watson« zu sagen.
Sie aßen in einem Steakhouse am Rande des kleinen Platzes mit der Anlage. Rauwolf sagte, dass er für den nächsten Tag Gesprächstermine bei Tiefenbachs geschiedener Frau und dessen Schwester verabredet habe. Dann bestellte Berndorf noch eine Runde Bier, und Rauwolf erzählte, wie er
1986 zur Volkspolizei gekommen war. Nach der Wende hatte er die Aufnahmeprüfungen für den gehobenen Dienst der Kriminalpolizei bestanden und war jetzt Leiter einer Ermittlungsabteilung. »Ich habe mehr Glück gehabt als Tiefenbach. Der war schon zu lange auf seinem sozialistischen Gleis. Und wir zwei . . .«, er prostete Berndorf zu, »arbeiten in einer Branche, wo sie nicht so schneidig Leute rauswerfen können wie bei der Bahn.«
Danach trennten sie sich, und Berndorf wanderte allein durch die Stadt, die einmal groß und bedeutend gewesen war, vorbei an Handelshäusern und Stadtpalästen im Stil der italienischen Renaissance, die jetzt im toten Winkel der Geschichte vom geschäftigen Treiben verflossener Jahrhunderte träumten. Er ging über den riesigen leeren Stadtplatz, über den ab und an ein Wagen mit deutschem oder polnischem Kennzeichen holperte, und im
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