Der Schatten des Schwans
er sich die Klarsichthüllen vor und betrachtete sie mit den Augen eines Weitsichtigen. »Sie können die Schrauben ruhig herausnehmen«, sagte Berndorf.
Der Mann schüttelte die Schrauben heraus und vermaß sie mit einer Schublehre, die er aus seinem Kittel geholt hatte.
»Nein«, sagte er schließlich. »Das stammt nicht von uns. Bei den Scharnieren seh’ ich es auf einen Blick. Verwenden wir nicht.«
»Und woran sehen Sie das?«, wollte Berndorf wissen.
»Es ist russische Ware«, sagte der Grauhaarige. »Die Abmessungen sind anders.«
Zu Mittag aß Berndorf in einem kleinen, fast bedrückend leeren Restaurant am Marktplatz. Danach ging er noch einmal durch die Stadt, am Renaissancebau des Rathauses und an den umliegenden Patrizierhäusern vorbei zur Polizeidirektion, von wo ihn Rauwolf nach Bautzen bringen sollte. Um 14 Uhr war er dort mit Tiefenbachs Schwester verabredet, einer Rosemarie Kautkus.
In seiner Vorstellung bestand Bautzen aus ein paar Häusern im Schatten eines alles beherrschenden Zuchthauses. Zu seiner Überraschung fuhr ihn Rauwolf in eine spätmittelalterliche, auf einem Hügelzug gelegene Stadt mit malerischen Türmen. Rosemarie Kautkus war eine schwerfällige, dunkelhaarige Frau mit vielen grauen Strähnen. Offenbar lebte sie allein in ihrer Altbauwohnung, das heißt, allein mit einer großen Voliere, in der Wellensittiche mit kurzen Flirrflügen von einem kahlen Ast zum nächsten wechselten.
Rauwolf verabschiedete sich. Berndorf würde von Bautzen aus den Zug nach Dresden nehmen und am späten Abend zurückfliegen.
Die dicke Frau lud Berndorf ein, an einem runden wackeligen Mahagonitisch vor der Voliere Platz zu nehmen. »Ich denke, er hat es selbst gemacht«, sagte sie, als sie sich beide gesetzt hatten. Berndorf wollte wissen, warum sie das glaube.
»Ach«, sagte sie, »die Arbeitslosigkeit. Und die Frau war auch nicht das Richtige für ihn. Wissen Sie, für mich ist er immer mein kleiner, anständiger, strebsamer Bruder geblieben. Nur fällt für die Anständigen und Strebsamen nie eine von den dicken Kartoffeln ab. Die Klöße in der Röhre sind für die anderen. Das war schon immer so bei uns.«
Berndorf fragte, ob sie ihm etwas von ihrer Familie erzählen wolle, von ihrer Mutter und ihrem Vater. Die Mutter sei Krankenschwester gewesen, sagte sie, »und der Vater Stellmeister bei den Bahnwerken. Aber dann kam der Krieg, Vater war Panzerfahrer und ist bei Kursk vermisst worden, ich habe keine Erinnerung an ihn. Meine Mutter hat hier im Krankenhaus gearbeitet und uns durchgebracht, in der DDR ging das, aber eine Familie, in der kein Vater da war, hat auch hier nicht so recht gezählt, den Ton haben die Männer angegeben, die irgendwie aus dem Krieg zurückgekehrt sind.«
Sie machte eine Pause. »Ich weiß, wie das damals war«, hörte sich Berndorf zu seiner Überraschung sagen. Die Erinnerung
an die Dachwohnung in dem Dorfschulhaus kam in ihm hoch, in der seine Mutter mit ihm gelebt hatte. Es waren zwei Kammern über der Lehrerwohnung, sie waren 1944 dorthin evakuiert worden, wie das damals hieß. Der Lehrer war ein grober, polternder Mensch mit einer hämischen Frau, der immer neue Beschwerden und Gehässigkeiten einfielen. Wann die Waschküche nicht benutzt werden durfte. Dass die Treppe zur Haustür nicht sauber genug geputzt war. Dass er abends kein Wasser mehr aus dem Keller zu holen hatte. Noch heute spürte Berndorf den Hass in sich. Seine Mutter, die Kriegerwitwe, hatte es nie gelernt, sich zu wehren.
Die Frau schaute ihn aufmerksam an. »Ich sehe es«, sagte sie dann, »wir sind ziemlich der gleiche Jahrgang.« Beide schwiegen. Dann sprach sie weiter.
»1957 hat sich meine Mutter umgebracht. Sie hatte Krebs. Sie hat das Gift rechtzeitig genommen. Ich denke, dass mein Bruder auch so etwas gemacht hat.« Sie stand auf. »Entschuldigen Sie. Ich würde mir gerne einen Kaffee machen. Trinken Sie einen mit?« Berndorf sagte, dass er das sehr gerne tun würde. Sie gingen in eine altmodische, aber frisch geweißelte Wohnküche mit einem Tisch, auf dem ein weißblaurotes Tischtuch lag. Rosemarie Kautkus setzte Wasser auf den Gasherd und stellte zwei Tassen auf den Tisch. Berndorf rutschte auf die Küchenbank. Dann goss die Frau zwei Tassen Nescafé auf.
Als sie sich gegenübersaßen und beide den ersten Schluck genommen hatten, brach Berndorf sein Schweigen. »Heinz war Ihr Halbbruder?«
Die Frau sah ihm scharf und misstrauisch in die Augen. »Ich verstehe
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