Der Schatten des Schwans
fahlen Licht der Straßenlampen studierte er die Schilder, die daran erinnerten, dass Napoleon im Frühjahr 1813 hier sein Hauptquartier gehabt hatte. Für einen Augenblick hatte Berndorf das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben. Schließlich ging er müde in sein Hotel zurück.
Er war das Alleinsein gewohnt. Aber in einem Hotelzimmer ertrug er es nur schlecht. Er setzte sich in den Sessel neben seinem Einzelbett und schlug den Montaigne-Band auf. Sein Blick blieb am Wort »Wollust« hängen. Oh ja, schachmatt in zwei Zügen: »Man rühme sich nicht«, stand da, »die Wollust zu verachten und zu bekämpfen, wenn man sie nicht kennt, wenn man weder etwas von ihren Reizen und Machtmitteln, noch von ihrer höchst verlockenden Schönheit weiß.«
Ich rühme mich ja nicht, dachte Berndorf. Ich ruf’ ja nicht einmal Barbara an. Sie wird noch auf dem verdammten Workshop sein. Und in dieser verlassenen Stadt Görlitz waren die reizenden Schönheiten der Wollust einfach nirgends zu sehen.
Dann überlegte er, dass es an der Ostküste nun auch schon
Nachmittag sein müsse. Wochenend-Seminare dauerten doch nicht bis zum Sonntagabend? Am Sonntagvormittag ist die Abschlussbesprechung, dann gibt es noch einen gemeinsamen Lunch, und dann fahren die Leute nach Hause, etwas wollen die Profs ja auch noch vom Sonntag haben. Er wählte die Nummer von Barbaras Anschluss in Yale.
»Hello?« Eine sehr müde, sehr schläfrige Stimme meldete sich.
»Ich hab’ dich geweckt?«, fragte Berndorf.
»Allerdings hast du das.« Plötzlich war die Stimme klar und hell. »Aber es ist ganz recht. Mittagsschlaf vertrage ich nicht. Wo steckst du überhaupt? Es ist schon wieder Sonntag und du bist nicht zu Hause. Vorhin warst du es nicht.«
Berndorf erklärte es ihr.
»Görlitz ist schön«, sagte Barbara. »Schön und melancholisch. Eine Stadt, die dir gefallen müsste. Und du bist wegen irgendwelcher Schrauben da – hab’ ich das richtig verstanden?«
»So ungefähr.« Manchmal war sein Beruf wirklich merkwürdig, dachte Berndorf.
»Manchmal ist dein Beruf wirklich merkwürdig«, sagte Barbara. »Und jetzt sitzt du in einem Hotel und es ist alles ganz schrecklich. Hast du wenigstens etwas zu lesen? Am Ende wieder den Herrn aus der Gascogne?«
»Er hat es gerade mit der Wollust«, sagte Berndorf etwas kleinlaut.
»Für ein Einzelzimmer im Hotel vielleicht nicht gerade das richtige Kapitel«, meinte Barbara sachlich. »Übrigens habe ich etwas für dich. In der Bibliothek hier habe ich eine Ausgabe von Montaignes Tagebuch über seine Bäderreise nach Italien gefunden. Er hätte sogar gern dein Ulm besichtigt, das fiel ihm aber erst in Augsburg ein. Ich habe da einen Satz entdeckt, den schenk’ ich dir durchs Telefon.« Sie machte eine Pause und las dann vor: »Wie die Größe und die Macht ist auch die Neugier sich oft selbst im Wege.«
Viele hundert Kilometer südwestlich von Görlitz, im Fünf-Bäume-Weg des Ulmer Stadtteils Söflingen, glitt ein Mann durch den Kellerschacht eines Wohnhauses, drückte die Scheibe des Kellerfensters ein und öffnete es. Eine halbe Stunde später hatte er das Haus durchsucht und sich für ein Zimmer mit Gartentür und einem Bett entschieden, das offenbar für Gäste bestimmt war. Ein Gast war ja auch er, dachte er sich. Er zog nur die Schuhe, seinen Mantel und die Anzugjacke aus und schlüpfte unter eine dünne Decke. Der Staatsanwalt war ein Fehlschlag gewesen. Er hatte nicht einmal begriffen, wer zu ihm gekommen war und wie nahe er dem Tode war.
Aber wie konnte er jemanden zur Rechenschaft ziehen, der nur noch greisenhaft war und blöde?
Montag, 2. Februar
Berndorf frühstückte zwischen missmutigen Geschäftsreisenden aus Westdeutschland. Dann ging er wieder zu Tiefenbachs Wohnung, wo er mit Rauwolf und dem Computerexperten des sächsischen Landeskriminalamtes verabredet war. Es war ein untersetzter wortkarger Mann, der sich ohne weiteren Aufenthalt an den PC setzte. Rauwolf und Berndorf machten sich daran, noch einmal die Wohnung nach Hinweisen durchzusehen, die Tiefenbach hinterlassen haben mochte oder wer immer es war, der am Abend des Bayernspiels das Licht eingeschaltet hatte.
Diesmal sah auch Rauwolf, dass bereits vor ihnen jemand die Wohnung durchsucht haben musste. »Man sieht es an den Hemden«, sagte er, »sie waren ordentlich zusammengelegt, aber jetzt sind die Stapel verrutscht. Ich habe wohl Tomaten auf den Augen gehabt.«
Sonst entdeckten sie nichts, kein Foto, keinen
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