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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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holte Luft. An dem Verwalter piepste es. Aus seiner Hemdentasche holte er einen Empfänger in der Größe einer Zigarettenschachtel heraus und schaute misstrauisch auf das Display.
    »Da ist irgendwas in 4c«, sagte der Verwalter. »Ach Gott, da ist ja der olle Kropke.« Er stand auf und setzte sich in Trab. Rübsam lief hinter ihm her.
    Erster Staatsanwalt außer Dienst Ernst Kropke stand totenblass und zitternd neben dem Waschtisch. »Die Letzte Ölung«, sagte er zu Krauser. »Er hat mir die Letzte Ölung geben wollen, ich bin noch lange nicht so weit, die dürfen so etwas nicht. Und was tun Sie hier eigentlich? Sie sollen mich schützen, das weiß ich genau.« Dann wandte er sich an den
Verwalter. »Ich werde mich beschweren. Wozu habe ich Polizeischutz? Da kommt dieser Mensch und will mir die Letzte Ölung . . .«
    »Niemand tut Ihnen was«, sagte der Verwalter. »Ich hab’ Ihnen hier den Pfarrer Rübsam mitgebracht, der . . .«
    »Nein«, sagte Kropke, »nicht schon wieder. Ich lass mich nicht . . . Gehen Sie weg. Ich will nicht. Noch nicht.«
    »Keine Angst«, sagte Rübsam. »Von mir bekommen Sie keine Letzte Ölung. Ich bin evangelischer Pfarrer. Aber was haben Sie mit Ihrem Pullover gemacht?«
    Dann ging er durch das Zimmer zu der halb geöffneten Balkontür. Das Abendmahlsgeschirr war auf einem Plastiktisch vor dem Balkonfenster abgestellt, daneben lag der Talar, unordentlich zusammengeknüllt. Rübsam trat zum Balkongeländer und sah hinunter. Kropkes Appartement lag im Hochparterre. Unter dem Balkon waren Blumenbeete. Jetzt im Winter waren sie leer, und die Fußabdrücke in der feuchten dunklen Erde waren von oben gut zu sehen. Kropkes Besucher war hier hinuntergesprungen. Aus dem Hochparterre war das kein Problem.
    Rübsam nahm seinen Talar und das Abendmahlsgeschirr und ging in das Zimmer zurück.
    Kropke sah an sich herunter. »Ich weiß nicht«, sagte er. In dem grauen Pullover mit den Flecken der Nudelbouillon klafften zwei große Risse, die sich wie ein »X« kreuzten.
    »Das sieht aus, also, wie mit der Schere geschnitten sieht das aus«, meinte Krauser.
    »Das ist doch Unsinn«, sagte der Verwalter. »Wer soll denn so etwas tun?«
    »Richtig«, warf Rübsam ein. »Einen Talar darf man ja stehlen im Altersheim. Aber Pullover zerschneiden.« Der Verwalter warf ihm einen hasserfüllten Blick zu.
    »Eine Schere hat der Pfarrer nicht gehabt«, erinnerte sich Kropke. »Es war ein Messer. Wie sagt man. Ein Messer zum . . . Also ein Messer.«

    Rübsam griff mit der freien Hand an Kropkes Pullover und zog eine der Schnittstellen zu sich her, um sie genauer zu betrachten. »Ein Messer zum Rasieren, wollten Sie sagen. Da haben Sie ganz Recht. Es ist eine sehr scharfe Klinge gewesen.« »Ein übler Scherz«, sagte Krauser. Rübsam sah ihn an. »Wenn Sie meinen. Der Kriminalist sind ja Sie.«
     
    Der Interregio hielt. Berndorf griff sich seine Tasche und stieg aus. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, er sei auf einem jener Bahnhöfe angekommen, an denen die Zeit Endstation hat. Er versuchte sich vorzustellen, wie es hier vor dem Ersten Weltkrieg ausgesehen haben musste, als er Umschlagplatz war für die Warenströme aus dem blühenden Sachsen ins kaiserlich-russische Polen oder hinüber nach Böhmen und elegante polnische Damen hier in den Nachtschnellzug nach Paris umstiegen. Heute sah man nur noch Rost, Graffiti und leere Bierdosen.
    »Willkommen in Görlitz!« Ein drahtiger mittelgroßer Mann mit sorgfältig gestutztem Schnurrbart und kurz geschnittenem dunklen Haar trat auf ihn zu: »Sie sind Hauptkommissar Berndorf? Rauwolf.« Er hatte einen festen Händedruck. Berndorf bat um Entschuldigung, dass er an einem Sonntag komme. Rauwolf sagte, er habe ohnehin Bereitschaftsdienst.
    Es war später Nachmittag, und Rauwolf fuhr Berndorf zunächst zu dessen Hotel, einem erst in den letzten Jahren renovierten Bau aus den Gründerjahren. Aus seinem Zimmerfenster sah Berndorf auf die elegante, ockerfarbene Fassade eines Geschäftshauses mit weißen Jugendstilornamenten.
    Rauwolf schlug vor, dass Berndorf sich zunächst die Wohnung Tiefenbachs ansehen solle; sie könnten zu Fuß dorthin gehen. Berndorf war einverstanden. Sie verließen das Hotel und das Gründerzeitviertel und überquerten einen Platz mit einer kleinen Parkanlage in der Mitte, eine in den Gleisen quietschende Straßenbahn schaukelte ihnen entgegen. Rauwolf
führte ihn nach rechts in ein Wohngebiet mit hohen grauen Häusern, deren Fenster

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