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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Diesmal ging er wirklich. Er hatte keine Lust, in die Direktion zurückzukehren. Also fuhr er nach Hause, setzte sich einen Tee auf und überlegte
seine nächsten Schritte. Was wusste er denn? Im Sommer 1944 war Heinz Tiefenbachs Mutter mit einem jungen Soldaten hinter die Büsche des Pückler-Parks in Muskau gegangen. Der Soldat war auf Heimaturlaub gewesen.
    Wer war dieser Soldat?
    Was war aus ihm geworden?
    Auf beide Fragen würden sich Antworten finden lassen. Nur war damit der Fall nicht gelöst. Es gab noch eine andere Frage. Um sie zu beantworten, brauchte er genauere Informationen über die Ärzte, die in den letzten Kriegsmonaten in Christophsbrunn ihre Experimente an Kriegsgefangenen vorgenommen hatten. Er hatte nicht einmal eine Fotografie von ihnen. Vor allem brauchte er eine Aufnahme von Hendriksen. Des Mannes aus Flensburg, der so großen Wert auf die korrekte hochdeutsche Aussprache gelegt hatte. In den Universitätsakten würde nichts zu finden sein. Irgendjemand hatte sie gründlich gefilzt. Aber vielleicht sollte er trotzdem nach Tübingen fahren.
    Der Wasserkessel fing an zu pfeifen. Er goss sich seinen Tee auf. In seinem Küchenschrank fand er noch eine angebrochene Schachtel mit Keksen. Dann trug er das Tablett mit dem Tee und den Keksen in sein Wohnzimmer. Am liebsten hätte er Barbara angerufen. Aber es war viel zu früh dafür. Unvermittelt sprang ihn die Depression an. Er war allein. Er hatte versagt. Was er vorhatte, war ohne jede Aussicht auf Erfolg.
    Sein Telefon begann zu summen. Er stand müde auf. Barbara konnte es nicht sein.
    »Rauwolf hat sich gemeldet«, sagte Tamar. »Ich soll Ihnen etwas über Schloss Muskau sagen. Bis 1945 ist dort ein Gärtnerehepaar Twienholt beschäftigt gewesen. Die Eheleute hatten einen Sohn, Gustav, 1922 geboren. Die Eltern leben nicht mehr, Rauwolf lässt prüfen, ob es noch Leute gibt, die den Sohn gekannt haben. Ist was, Chef?« Berndorf sagte, nein, es sei nichts. Er hatte tief durchgeatmet.

    »Da ist noch etwas«, sagte Tamar. »Rauwolf sagt, er hat in Muskau einen alten Fotoladen gefunden, den es dort in der dritten Generation gibt. Die Inhaber haben immer noch ihr altes Archiv. Gustav Twienholt hat sich 1943 in seiner Uniform fotografieren lassen. Der Laden hat tatsächlich noch das Negativ. Rauwolf schickt mir einen Abzug über Bildfunk. Sie kriegen ihn, sobald ich ihn hab’. Ich werf ihn in Ihren Briefkasten. Übrigens – Twienholt, ist das nicht der Prof, der wegen Thalmann Polizeischutz hat?«
    »Behalten Sie es für sich«, antwortete Berndorf. »Und den Abzug werfen Sie bitte nicht bei mir in den Briefkasten, sondern nehmen ihn mit nach Hause. Ich hole ihn dort ab.« Er legte auf und schloss die Augen. Gestern Abend, sofort nach der Landung in Echterdingen, hatte er Rauwolf angerufen und ihn gebeten, in Muskau Nachforschungen anzustellen. Und jetzt, gegen alle Erwartung, nahm der Fall Konturen an. Zwar waren die Beweise noch immer lausig. Aber die Sache war doch nicht mehr aussichtslos. Nicht mehr ganz aussichtslos. Dann rief er Kastner in Ravensburg an.
    »Ich hab’ schon gehört, wie sich die Sau Steinbronner aufgeführt hat«, sagte Kastner zur Begrüßung. »Soll ich dafür sorgen, dass dir die Gewerkschaft Rückendeckung gibt?« Kastner war stellvertretender Bezirksvorsitzender der GdP.
    »Danke, aber mit einem Anwalt habe ich schon gesprochen«, antwortete Berndorf. »Du kannst mir in einer anderen Sache helfen: Wengenried ist doch euer Gäu?«
    »Aber ja«, sagte Kastner. »Es ist ein Dorf bei Altshausen.«
    »1945 ist dort bei einem Fliegerangriff ein Dr. med. Hendrik Hendriksen getötet worden. Ich nehme an, die haben ihn dort begraben. Kannst du rauskriegen, ob das Grab noch besteht?«
    »Ein Grab nach über 50 Jahren? Da müssen wir Glück haben.« Kastner versprach, sich darum zu kümmern.

     
    Der Anrufer, der sich bei Tamar gemeldet hatte, sprach mit einer klaren und angenehmen Stimme. Er stellte sich als Johannes Rübsam vor, Pfarrer der Paulus-Gemeinde, und erklärte Tamar, dass er im zweiwöchigen Turnus Gottesdienst im Dornstadter Altenzentrum halte. »Ich hatte zunächst angenommen, es sei überflüssig, bei Ihnen anzurufen. Bei dem Vorfall war schließlich ein Polizeibeamter anwesend. Nach dem Verbrechen von gestern Abend dachte ich, ich sollte mich vielleicht doch bei Ihnen melden.«
    Altenzentrum? Tamar versicherte eilends, dass sein Anruf sicher kein Fehler sei. Rübsam berichtete von dem verschwundenen Talar und

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