Der Schatten des Schwans
Sie schon einmal in der Lausitz? In Görlitz zum Beispiel?«, fragte Berndorf zurück.
»Ich bin dort geboren«, antwortete Frentzel beleidigt.
»Um so besser. Dann wissen Sie, dass die Leute dort ein sehr kultiviertes Hochdeutsch sprechen. Durchaus kein Sächsisch. Und dass sie vor allem kein ›s-t‹ s-prechen wie hoch im Norden.«
»Aber ja doch«, sagte Frentzel ratlos.
»Und wenn es in Ihrem Archiv heißt, jemand sei in Bad Muskau geboren, und der Mensch spricht das hols-teinische ›s-t‹, dann gibt es mehrere Erklärungen. Erstens: Der Mensch ist zwar in der Lausitz geboren, aber im Norden aufgewachsen. Zweitens: In Ihrem Archiv steht Mist. Drittens: Die Biografie ist gelogen.«
»Wer bin ich, dass ich Erklärung zwei ausschließen könnte?« , meinte Frentzel. »Aber irgendwie scheinen Sie zu Erklärung drei zu neigen.«
Berndorf sah ihn von der Seite an. »Sie sind ein ahnungsvoller
Engel«, sagte er dann. »Aber sie müssen noch ein paar Tage an sich halten. Dann können Sie lobsingen.«
Dienstag, 3. Februar, 14 Uhr
Die Kanzlei des Wirtschaftsanwalts Eberhard Schülin befand sich in der Dachetage eines Neubaus an der Promenade oberhalb der Donau. Am Eingangsportal waren Berndorf zwei sorgfältig polierte Messingschilder aufgefallen, von denen das eine Schülin als Fachanwalt für Wirtschafts- und Urheberrecht auswies und das zweite in modischer Rotistype anzeigte: »ulmnet – Fachagentur für elektronische Kommunikation«. In der Kanzlei wurde der Kommissar von einer sehr jungen Frau mit dunkelrot geschminkten Lippen und einem langen, hüfthoch geschlitzten Rock empfangen und gebeten, kurz zu warten. Nach wenigen Minuten kam sie dann aber schon und wies ihn in ein großes, teuer eingerichtetes Büro, von dem aus man die Donau sah und die Eisenbahnbrücke zum bayerischen Ufer.
Schülin war ein schlanker Mann, größer als er, mit grau meliertem, sorgfältig geföhntem Haar. Er sagte, auch wenn Berndorf in anderer Sache gekommen sei, so müsse er ihm doch noch einmal sagen, wie sehr seine Familie nach dem Mord an Richter Gauggenrieder beunruhigt sei, insbesondere auch sein Schwiegervater: »Er sorgt sich vor allem um seine Enkelin.«
Berndorf erklärte, dass vom Innenministerium inzwischen eine Sonderkommission mit Stuttgarter Experten eingesetzt worden sei, um Thalmann so schnell als möglich festzunehmen und jede weitere Gefährdung Dritter auszuschließen. Schülin schob nach, dass dies sehr viel früher hätte geschehen müssen. »Aber deswegen sind Sie ja nicht gekommen. Was also kann ich für Sie tun?«
Er sei von der Teilnahme an der weiteren Fahndung nach
Thalmann ausgeschlossen worden, sagte Berndorf. »Dabei ist mir kein Vorwurf zu machen. Ich möchte wissen, auf welchem disziplinar- oder verwaltungsrechtlichen Weg ich mich gegen diesen Ausschluss zur Wehr setzen kann.«
Schülin schaute ihn zweifelnd und abweisend an. »Hören Sie – wieso wenden Sie sich gerade an mich? Ich gehöre zu einem Personenkreis, der leider absolut keinen Grund hat, mit den bisherigen Bemühungen der Ulmer Polizei zufrieden zu sein. Und im Übrigen bin ich kein Fachmann für Disziplinarrecht. Ich bin Wirtschaftsanwalt und beschäftige mich beispielsweise mit den immensen Transaktionen, die über das Internet abgewickelt werden können, und deren rechtliche Absicherung. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber meine Honorare sind für einen mittleren Beamten wirklich einige Hausnummern zu hoch.«
Ja, sagte Berndorf, das hätte er sich natürlich denken müssen. »Ich kam darauf, weil Sie mir als kompetenter Anwalt empfohlen wurden.« Schülins Augen wurden noch schmaler.
»Das war . . .«, Berndorf brach ab und machte ein ratloses Gesicht. »Ich weiß wirklich nicht mehr, wer Sie mir empfohlen hat. Komisch. Ich glaube, es war nicht einmal in Ulm. Es war irgendwo anders.« Dann sah er Schülin direkt ins Gesicht. »Kann das sein, dass Sie in letzter Zeit in den neuen Ländern zu tun hatten? Genauer: in Görlitz?«
Schülins Gesicht wurde steinern. »Nein«, sagte er, »ich habe durchaus nicht in Görlitz zu tun gehabt. Und nun sollten Sie sich wirklich nicht länger aufhalten lassen.« Berndorf deutete eine kurze Verbeugung an und wandte sich zum Gehen.
Schülins Stimme holte ihn ein. »Lassen Sie mich noch sagen, dass ich sehr gut verstehe, warum Sie dienstliche Schwierigkeiten haben.«
Berndorf drehte sich um. »Wie Sie meinen«, sagte er. »Und Sie waren tatsächlich nicht in Görlitz?«
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