Der Schatten des Schwans
dem alten Staatsanwalt, dem ein Unbekannter den Pullover zerschnitten hatte. »Ihr Kollege hat es ja für einen üblen Scherz gehalten. Mir hat die Sache irgendwie nicht nach einem Scherz ausgesehen.«
Tamar hatte sich mit der linken Hand den Einsatzplan für den Personenschutz in der Sache Thalmann hergezogen. »Der Beamte, der dabei war – hieß der vielleicht Krauser?«
»Ja«, sagte Rübsam, »das könnte der Name gewesen sein.«
Das erklärt einiges, dachte Tamar. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie angerufen haben«, sagte sie dann und bat um einen Termin, um seine Aussage zu Protokoll zu nehmen.
Es war später Nachmittag geworden. Berndorf trank seinen Tee aus und machte sich auf den Weg zum Tagblatt, um die Abzüge abzuholen. Frentzel saß gerade über einem Kommentar, Berndorf las die Überschrift: »Bauernopfer im Neuen Bau«. Offenbar war mit dem Bauer er gemeint. Frentzel verzog das Gesicht und sagte: »Nix für ungut.« In einem Umschlag, der für ihn bereitlag, waren die Abzüge der Twienholt-Porträts; der junge Mann aus dem Labor hatte sie auf A4-Format vergrößert. Berndorf nahm den Umschlag, hob dankend die Hand und ging, ohne Frentzel weiter aufzuhalten.
Vom Tagblatt-Gebäude aus schlug er den Weg zum Michelsberg
ein. Spätwinterliche Dämmerung zog auf. Er kam an einem kleinen Reisebüro vorbei, in dessen Schaufenster ein großes Plakat in blauen, gelben und weißen Farben für einen Urlaub in Israel warb. Ein paar Tage in einem anderen Licht und unter einer wärmeren Sonne würden ihm gut tun, dachte er, wenn er denn Zeit dafür hätte. Dann fiel ihm ein, dass ihm Steinbronner den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Sie wollten ja, dass er Urlaub nehme. Denn es wird ernst, und da kann man den Versager nicht brauchen. Den Mann, der auf Dienstreise bei den Ossis ist, wenn es die wirklich wichtigen Morde gibt! Als Nächstes fiel ihm ein, dass er in Tel Aviv den Kriminologen Mordechai Rabinovitch besuchen könnte.
Entschlossen stieß er die Tür des Reisebüros auf.
Eine halbe Stunde später war er oben am Michelsberg und machte sich an die Arbeit. Er begann bei einer kleinen Gärtnerei. Sie lag etwas oberhalb der Straße, die vom Autobahnzubringer in das Villenviertel führt. Eine dickliche junge Frau mit roten Flecken im Gesicht blickte gleichgültig auf seinen Polizeiausweis und die Klarsichtmappe mit den Fotos von Heinz Tiefenbach und seinem Toyota. Nein, sie hatte den Mann nie gesehen, und das Auto war ihr auch nicht aufgefallen. Sie hatte auch von niemandem gehört, der Besuch bekommen hatte.
Berndorf ging zum nächsten Haus und klingelte eine alte Frau heraus. Auch ihr sagten die Fotos nichts. Inzwischen war es dunkel geworden, und die meisten Leute waren zu Hause. Aber niemand konnte sich an Heinz Tiefenbach und an einen Wagen mit Görlitzer Nummer erinnern.
Über anderthalb Stunden vergingen. Fünfzig Meter vor sich sah Berndorf einen Streifenwagen. Er war vor dem Anwesen Twienholt geparkt. Ein Wagen hielt neben ihm, ein Daimler-Coupé, lautlos senkte sich eine Fensterscheibe.
»Kommissar Berndorf?«, fragte eine weibliche Stimme. Sie
gehörte Anne-Marie Twienholt-Schülin. »Was tun Sie, um Gottes Willen, um diese Zeit auf der Straße?«
»Ich möchte wissen, ob jemand diesen Mann hier gesehen hat«, sagte Berndorf, beugte sich zum offenen Wagenfenster und hielt ihr kurz die Klarsichtmappe hin. »Aber so können Sie ja nichts erkennen.« Ob er ihr die Fotos in ihrem Haus zeigen dürfe? Die Frau zögerte. »Steigen Sie ein«, sagte sie schließlich. Berndorf ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Beifahrersitz. Dann fuhr sie mit ihm die 50 Meter zu der Villa und durch die sich automatisch öffnenden Tore.
Berndorf nickte den Polizisten im Streifenwagen zu. Dann warf er wieder einen Blick auf Anne-Marie Twienholt-Schülin. Im Seitenprofil und im Licht der Armaturen sah sie noch angespannter und blasser aus, als Berndorf sie in Erinnerung hatte. Im Hof stiegen sie aus und gingen zusammen in die Eingangshalle. Berndorf gab ihr die Mappe mit den Fotos. Die Frau ging zu einer Stehlampe, knipste sie an und hielt die Fotos unters Licht.
»Nein«, sagte sie, »ich kenne diesen Mann nicht. Auch nicht das Auto. Warum zeigen Sie mir diese Bilder?«
Berndorf sagte, er denke, dass der Mann auf dem Foto irgendwo auf dem Michelsberg zu Besuch gewesen sei. Und dass sein Auto dann auf einer der Straßen hier geparkt gewesen sein müsse. »Darf ich die Aufnahmen auch Ihrem
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