Der Schatten des Schwans
polizeibekannt, wie uns die Görlitzer Kollegen am Telefon sagten«, trug Tamar vor. »Der Toyota, in dem er gefunden wurde, ist auf ihn zugelassen. In seiner Brieftasche fanden wir knapp 300 Mark, außerdem eine Eurochequekarte. Tiefenbach lebte allein und soll angeblich seit einigen Tagen verreist sein.«
Dann machte sie eine Pause. Englin zuckte mit dem Augenlid. »Es sieht aus, als ob er sich umgebracht hat«, fuhr Tamar fort. »Aber wir wissen nicht, ob wir es glauben sollen.«
»Und zwar deswegen nicht«, fügte Berndorf hinzu und schob eine Fotografie zu Englin hinüber. Auf dem Bild sah man nichts weiter als Schnee mit Fuß- und Reifenspuren darin. In der Mitte war ein weißes Rechteck zu erkennen, eine dünne, aber geschlossene rechteckige Schneedecke, die von den Spuren ausgespart geblieben war.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Englin missbilligend. Sicher nicht, dachte Berndorf.
»Entschuldigung«, sagte er dann. »Die Leiche wurde am Sonntagvormittag gefunden. Nach vorläufiger Auskunft der Gerichtsmedizin war der Mann zu diesem Zeitpunkt seit mindestens 40 Stunden tot, also seit dem späten Freitagnachmittag.«
»Und?«, fragte Englin ungehalten nach.
»Die Schneefälle haben erst nach 20 Uhr eingesetzt«, erläuterte Tamar. »Genau gegen 20.20 Uhr. Das ist von der Wetterstation auf dem Kuhberg so bestätigt worden. Es waren die ersten Schneefälle in diesem Jahr.«
Englin begriff noch immer nicht.
»Der Toyota des Toten stand hier«, Berndorf deutete auf das unberührte weiße Viereck, das auf der Fotografie zu sehen war. »Nur – vor Freitagabend kann er noch nicht da gewesen sein. Sonst läge hier kein Schnee.«
»Tiefenbach ist also erst später da hingefahren«, ergänzte Tamar. »Bloß war er da schon tot.«
Englin wollte wissen, warum es dann keine Spuren von dem Menschen gebe, der den Toten und seinen Wagen bis zu dem Steinbruch gefahren habe.
»Das müssen Sie unsere Waldläufer vom TSV Blaustein fragen«, sagte Berndorf. »Beziehungsweise die Kollegen Krauß und Krauser. Sie haben alles zertrampelt, als ob sie es darauf angelegt hätten. Allerdings wird nicht viel zu sehen gewesen sein. Die Frontscheibe des Wagens war zugeschneit, und die Schneedecke unter dem Chassis ist dünn.«
»Ja – ist er nun vor dem Schneefall hingefahren oder hingefahren worden, oder danach?«, fragte Englin.
»Während«, antwortete Berndorf. »Wer immer am Freitagabend den Wagen mit der Leiche gefahren hat, bekam ein Problem, als es zu schneien anfing. Er musste den Wagen so schnell wie möglich abstellen und die Leiche auf den Fahrersitz rücken, damit seine eigenen Spuren möglichst auch noch zugeschneit würden. Es sollte ja so aussehen, als ob Tiefenbach Selbstmord begangen hätte.« Berndorf schaute zu Tamar hinüber.
»Wir meinen deshalb«, griff Tamar den Faden auf, »dass der unbekannte Fahrer möglicherweise einen anderen Plan gehabt hat, dass er ursprünglich weiterfahren wollte. Und wenn er das wollte, dann vielleicht deshalb, weil nichts auf
Ulm hindeuten sollte. Wir sollten einen Fahndungsaufruf herausgeben, wer den Mann und seinen Wagen hier in der Stadt gesehen hat.«
Das Ulmer Gerichtsmedizinische Institut ist in einer alten, schmutziggelben Villa in der Prittwitzstraße untergebracht, oberhalb der Bahnlinie nach Heidenheim. Zu den Attraktionen des Hauses gehört die Eigenbau-Guillotine, mit der sich vor Jahren ein Bauernsohn aus einem Albdorf nach einigen Mühen doch noch erfolgreich um einem Kopf kürzer gemacht hatte. Sie steht jetzt in dem neugotisch getäfelten Saal im Erdgeschoss, der früher einer Ulmer Honoratiorenfamilie als Speisezimmer gedient hatte.
Berndorf stieg in den zweiten Stock hoch. Aus dem mit Fachliteratur und Aktenbündeln voll gestopften Dienstzimmer, in dem der Privatdozent und Pathologe Dr. Roman Kovacz hauste, sah man die Pauluskirche und dahinter das breit gelagerte Münster.
»Na, wie war es in Hiltrup?«, fragte Kovacz, stand von seinem Schreibtisch auf und kam Berndorf entgegen. »Ab morgen erfassen wir in Ulm den genetischen Fingerabdruck, oder wie?« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, dann ging Kovacz und holte eine zweite Tasse für den Kaffee. Zurück kam er mit einem geblümten Porzellanbecher, auf dem »Susi« stand, mit einem Herzchen auf dem »i«.
Der Kaffee war stark, Berndorf trank ihn schwarz. Die Sache mit der DNS-Analyse sei etwas für die nächste Polizistengeneration. »Für die cleveren jungen Leute am PC. Nichts
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