Der Schatten des Schwans
Polizeidirektion Ravensburg. Englin riss den Umschlag auf. Er enthielt das Protokoll einer Graböffnung, beigefügt war eine richterliche Anordnung und der Vermerk, dass die
vorgefundenen Überreste zur weiteren Untersuchung in das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Ulm verbracht worden seien. Englin rief Steinbronner an. Der kam sofort. »Lesen Sie«, sagte Englin, »ich versteh’ das alles nicht. Hendriksen? Der Name sagt mir überhaupt nichts.«
»Mir auch nicht«, sagte Steinbronner. »Aber ich rieche es. Ich rieche eine Sauerei. Ich will, dass wir den Berndorf sofort wieder hierherholen. Da hilft ihm nichts. Er wird das erklären müssen.« Englin griff zum Telefon.
Auf einer Startbahn des Flughafens Stuttgart-Echterdingen beschleunigte ein Airbus. Es war die fahrplanmäßige Air-France-Maschine nach Paris.
Englin ordnete an, sofort einen Streifenwagen zu Berndorfs Wohnung zu schicken.
Die Air-France-Maschine hob von der Startbahn ab. Berndorf schloss die Augen. Er fühlte sich müde. Und erleichtert. Heute Abend würde er durch die Rue Saint André des Arts bummeln. Vermutlich war sie voll von Touristen. Ihn würde es nicht stören. Er war selbst einer, für zwei Abende. Für Sonntag hatte er einen Flug mit der El-Al nach Tel Aviv gebucht.
Freitag, 6. Februar, 15 Uhr
»Nein«, sagte Tamar, »Kriminalhauptkommissar Berndorf ist derzeit mit dem Fall nicht befasst.« Warum redest du eigentlich nicht noch geschwollener, fragte sie sich.
»Das verstehe ich nicht«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. Es war Rauwolf von der Görlitzer Kriminalpolizei. »Wieso derzeit nicht befasst?«
»Sie haben meinen Chef suspendiert«, antwortete Tamar
kurzentschlossen. »Berndorfs Ermittlungen haben auf höherer politischer Ebene Missfallen erregt, Kollege. Ich weiß nicht, ob Sie so was kennen.«
Rauwolf schwieg. »Doch, Kollegin«, sagte er dann. »So was haben wir auch gekannt. Wir haben aber gedacht, das sei vorbei.«
»Wir irren alle«, antwortete Tamar weise.
»Aber damit hängen die ganzen Ermittlungen in der Luft«, wandte Rauwolf ein.
»Ich kann Sie mit Kriminalrat Englin verbinden«, schlug Tamar vor. »Vielleicht weiß er, wie in dem Fall weiter vorgegangen werden soll. Es sei denn, Sie wollen zufälligerweise lieber wissen, woran Berndorf zuletzt gearbeitet hat.«
»Ich glaube fast, dass ich das schon weiß«, meinte Rauwolf. »Deswegen habe ich ihm ja das Bild von diesem Wehrmachtsleutnant besorgt.«
»Dann wissen Sie jetzt exakt, in welcher Richtung nicht ermittelt werden soll«, sagte Tamar.
»Solche Anweisungen sind für mich aber nicht verbindlich«, antwortete Rauwolf. Danach schwiegen beide.
»Na schön«, sagte Tamar schließlich. »Ich denke, dass Berndorf bei Schülin ansetzen wollte, dem Wirtschaftsanwalt und Twienholt-Schwiegersohn. Berndorf nahm an, dass Schülin der Mann war, der Tiefenbachs Wohnung in Görlitz durchsucht hat.«
Sie machte eine Pause. »Falls Sie es überprüfen wollen: Ich habe mir von der Zulassungsstelle die Kennzeichen der Autos geben lassen, die auf die Familie Twienholt-Schülin zugelassen sind. Moment.« Sie holte ihr Notizbuch.
»Sie wollen es wirklich überprüfen?«, fragte sie vorsichtshalber. »Auch dann, wenn es Ärger gibt?«
»Ich bitte Sie, Kollegin,« sagte Rauwolf.
»Also da haben wir einen Mercedes 500, auf Professor Twienholt selbst zugelassen«, sagte Tamar und gab das Kennzeichen durch. »Wäre vermutlich sehr auffällig gewesen.
Dann ist da ein neues Coupé, auch ein Mercedes, eingetragen auf Anne-Marie Schülin-Twienholt, und ein BMW der Siebener-Reihe, als Halter ist Eberhard Schülin angegeben. Schließlich gibt es noch einen Porsche, auf eine Nike Schülin zugelassen, das ist wohl die Tochter.«
Rauwolf las zur Kontrolle noch einmal die Kennzeichen vor, die ihm Tamar durchgegeben hatte. »Vielleicht finden wir jemand, der einen der Wagen gesehen hat«, sagte er dann. »Wir fragen auch an den Tankstellen.«
New Haven, 18 Uhr
Im Luftstrom des Föhns trocknete der beschlagene Badezimmerspiegel, und aus dem Dunst tauchte ein ovales Gesicht mit skeptischen grünen Augen auf.
Kritisch warf Barbara Steins Spiegelbild den Blick zurück mit dem sie sich selbst musterte. Über die Falten um die Augen wollen wir uns nicht unterhalten, meinte das Spiegelbild. Das bringt nichts.
Sie war für den späteren Abend zu einer Party beim Dekan der Juristischen Fakultät eingeladen; als besonderer Gast wurde ein
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