Der Schatten des Schwans
Professor Twienholt geehrt wurde. Berndorf steckte die beiden Bilder wieder ein. Irgendwie hatte er das Gefühl, als sehe ihm jemand über die Schulter. Er drehte sich um und blickte in die hervorspringenden schwarz funkelnden Augen einer rotgrünen Dämonenmaske. Erst jetzt nahm er wahr, dass in dem Schaufenster mexikanische oder indianische Skulpturen ausgestellt waren. Der Dämon grinste ihn an.
Aus den Augenwinkeln sah Berndorf, dass am Ende der Gasse ein Streifenwagen einbog. Er nahm sich die Zeit, sich ruhig von dem Schaufenster wegzudrehen, ging um die Hausecke und verschwand in einer Seitengasse. Dann rannte er los.
Ein paar Häuser weiter war der »Ochsenkeller«, ein Bierlokal mit mehreren Räumen. Berndorf trat ein, lief durch den Gang, der zu einem Hinterzimmer führte, in dem sonst Briefmarkensammler oder Modelleisenbahnfreunde tagten. Er stieß die Tür zum Hinterhof auf, überquerte den Hof, kletterte auf die dort abgestellten Mülltonnen, stieg auf eine Mauer und sprang von dort auf die Torfballen hinunter, die eine
Gärtnerei an der anderen Seite der Mauer gelagert hatte. Doch nicht so schlecht mit seinen fünf überzähligen Kilo, sagte er sich.
Wenige Augenblicke später ging er, jetzt wieder gemessenen Schrittes, durch eine Einkaufspassage. Er hatte keine Lust, Steinbronner vorgeführt zu werden. Den Hinterausgang des »Ochsenkeller« kannte er, seit ihm dort ein junger Türke entkommen war, der wegen Schutzgelderpressung gesucht wurde.
Es war Donnerstagabend, die Geschäfte hatten länger geöffnet, zahlreiche Passanten waren unterwegs. Vor dem »Ochsenkeller« hielt ein Streifenwagen der Ulmer Polizei mit eingeschaltetem Blaulicht.
Seit zwei Stunden schon debattierte das Komitee der Kernkraftgegner Ulm-Gundremmingen im Hinterzimmer des »Ochsenkellers« über die Aktionen, mit denen man den bevorstehenden Transport von abgebrannten Kernbrennstäben aus Gundremmingen nach Gorleben so lange wie möglich aufhalten wollte. Das Kernkraftwerk Gundremmingen liegt dreißig Kilometer donauabwärts von Ulm.
Ein älterer Brillenträger in einem Trachtenjanker aus ungefärbter Wolle, der Vertreter des Naturschutzbundes, warnte vor einer Eskalation.
»Eskalation, wenn ich das schon höre«, höhnte ein junger Bursche mit einer lila Irokesenfrisur. »Was hier pausenlos eskaliert, das ist doch die Kernkraft-Mafia. Und ihr Bullenstaat.« Der Irokese gehörte zu den Punx for Peace.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und einer der beiden Polizisten aus dem Streifenwagen trat ins Nebenzimmer. »Entschuldigung«, sagte er höflich.
»Meine Rede«, sagte der Irokese.
»Ich fasse es nicht«, sagte eine energische Dame mit langen blonden Haaren. »Jetzt ziehen sie nicht einmal mehr ihr Kostüm aus, wenn sie uns aushorchen wollen.«
»Sie ha-ha-haben hier nichts zu suchen«, sagte ein rundlicher, noch junger Mann mit langen fettigen Haaren und baute sich vor dem Beamten auf.
»Entschuldigung« sagte der Beamte noch einmal. »Ich wollte nur fragen, ob hier . . .«
»Gar nichts ha-ha-haben Sie hier zu fragen«, sagte der junge Mann. Der Polizist ging einen Schritt zurück und stieß mit einer stämmigen Kellnerin zusammen, die ein Tablett mit Getränken hereinbrachte.
Das Tablett fiel scheppernd zu Boden. Eine Lache aus Weizenbier, Apfelsaft und zwei Portionen Kaffee breitete sich auf dem Boden des Nebenzimmers aus. Unter dem Tisch der Punx for Peace schreckte ein zottiger Schäferhundmischling hoch. Ohne weiteres Zögern biss er den Polizisten ins Bein.
Der Beamte schrie gellend. Im Streifenwagen löste sein Kollege den Notruf aus und schaltete das Martinshorn ein. Dann zog er seine Dienstpistole und entsicherte sie im Laufen. Dabei übersah er die Stufe im Flur des »Ochsenkellers«. Er flog längelang nach vorne. Krachend löste sich ein Schuss. Die Kugel schlug splitternd in die Tür zum Hinterhof ein.
Die Schalterhalle des Tagblatt war schon geschlossen. Berndorf ging zum Personaleingang. Polizisten kannten diesen Zugang, denn die Spätschicht holte dort regelmäßig ein Andruckexemplar der Ausgabe vom nächsten Tag ab, als Lektüre für die Stunden bis zum Schichtende. Jetzt war es kurz vor 19 Uhr. Frentzel müsste noch irgendwo sein, dachte Berndorf. Aus dem Verlagshaus kam ihm ein groß gewachsener junger Mann entgegen. Es war der Fotograf, der ihm die Abzüge von den Twienholt-Fotografien gemacht hatte.
Womöglich habe ich Glück, dachte Berndorf. »Wie es sich trifft«, sagte
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