Der Schatten des Schwans
Yale-Absolvent erwartet, ein Anwalt, der an dem Milliarden-Deal beteiligt gewesen war, mit dem sich die amerikanische Zigarettenindustrie von Schadenersatzforderungen freigekauft hatte.
Vermutlich würde es öde genug werden, ganz davon abgesehen, dass weitere Annäherungsversuche jenes österreichischen Literaturprofessors zu befürchten waren, der sie vor einigen Tagen durch seine Zehn-Dioptrien-Brille hindurch entdeckt hatte. Dass er Schmankerln aus der Szene der durchreisenden Dichter erzählte, machte seine Gesellschaft nur wenig amüsanter. Er hatte ihr eine Lesung von Sarah Kirsch vor einer Klasse Kaugummi kauender Germanistikstudenten vorgespielt und deren biologisch interessierte Nachfragen bei
der Gedichtzeile »Unter der Milchstraße jagt der / Schatten des Schwans«. Und er hatte keinen Schimmer davon, dass seine vorarlbergische Intonation eines von Barbaras Lieblingsgedichten noch gründlicher abtrudeln ließ, als es die jungen Leute mit ihrer ahnungslosen Annäherung an ein Sternbild fertig gebracht hatten.
In ihrem weißen Bademantel ging sie in den Living-Room. Am Garderobenspiegel unterlief ihr ein weiterer kritischer Blick. Die Taille, über der sie den Bademantel verknotet hatte, war noch schmal, die Hüften dagegen kräftig und ausladend. Aber das waren sie schon immer gewesen.
In Europa war es Mitternacht, vielleicht war B. jetzt zu Hause. Sie wollte wissen, wie es mit ihm und seinem merkwürdigen Fall weitergegangen war. Vielleicht würde er ja jetzt den Anlauf zum großen Absprung aus dem baden-württembergischen Polizeidienst nehmen.
In Ulm meldete sich nur der Anrufbeantworter. Wo steckte B.? Er war doch beurlaubt.
Sie schaltete den Nachrichtenkanal CNS ein. Die Finanzminister der G-7-Staaten verhandelten noch immer über ein neues System fester Wechselkurse; der Noch-Präsident im Weißen Haus warnte zum 127. Mal einen nahöstlichen Diktator und sah dabei schon wieder wie ein Schuljunge aus, der beim Onanieren ertappt wurde; der Gouverneur von Texas war auf Vortragstour bei den Handelskammern, um Spendengelder für seinen Präsidentschaftswahlkampf zu akquirieren.
Das Telefon klingelte. Barbara stellte den Fernseher leiser und nahm den Hörer ab.
Es war B., und die Stimme klang gut. Gelöst, fast fröhlich. Barbara klagte ihm über den Abend, der auf sie wartete. Der Versuch, die Vorarlberger Kirsch-Imitation wiederzugeben, misslang ihr gründlich.
Aber Berndorf bat sie, die Zeile noch einmal zu wiederholen. »Der Schatten des Schwans«, sagte er. »Sind Schwäne eigentlich Todesboten?«
»Sie werden oft so gesehen. Bei den alten Griechen waren sie der Großen Göttin geweiht. Die Große Göttin hieß später auch Nemesis, und Zeus stellte ihr nach, ausgerechnet. Sie versucht, sich zu retten, indem sie immer neue Gestalt annimmt, aber Zeus hält mit und als Schwan erwischt er sie dann. Es ist einer der Mythen, die den Wechsel von unserem vorhellenischen Matriarchat zu deinem Patriarchat zum Thema haben. Warum fragst du?«
»Er hat also die Nemesis vergewaltigt«, sagte Berndorf. »Ich dachte immer, es sei die Leda gewesen. Jetzt verstehe ich auch, warum die Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit seit längerer Zeit nicht so gut drauf ist. Aber im Ernst: Die Station, auf der die Kriegsgefangenen in Christophsbrunn zu Tode behandelt wurden, hieß ›Schwanensee‹, angeblich nach einem Feuerlöschteich.«
»Mir schwant, dass du dich damit nicht abfinden willst«, sagte Barbara, fügte aber gleich hinzu: »Sorry, das ist eigentlich kein Thema für einen Kalauer.«
»Ja. Nein. Das ist alles noch nicht ausgestanden.«
Das heißt, dass er die Partie noch nicht aufgibt, dachte Barbara. Und dass er die Übelkrähe verjagt hat. Aber nicht nur B. klang verändert. Auch die Geräusche im Hintergrund waren anders. Es war, als ob das Fenster offen sei und Straßenlärm einlasse. »Wo steckst du überhaupt? Irgendwie hörst du dich nicht nach Ulm an.«
»Ich bin auch nicht in Ulm«, sagte Berndorf. »Ich bin in Paris. In einem kleinen Hotel nahe dem Étoile.«
Dann erzählte er, wo er während der letzten Tage gewesen war.
»Das finde ich alles sehr schön«, sagte Barbara schließlich. »Es gibt nur eines, das ich nicht verstehe: Warum bist du nicht direkt nach Tel Aviv geflogen?«
»Weil Freitagabend ist«, antwortete Berndorf. »El-Al fliegt am Schabbes nicht. Außerdem müssen die in Stuttgart oder Ulm nicht wissen, wo ich die nächsten Tage bin.«
Montag, 9. Februar, 11 Uhr
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