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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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MEZ
    Die Wellen rollten grau und schäumend an den Strand. Ein steifer Nordwestwind fegte über die Promenade. Berndorfs Sommeranzug hatte sich als verfrüht erwiesen. Noch am Morgen hatte er sich bei einem Herrenkonfektionär einen Pullover gekauft.
     
    Rabinovitch und er waren allein auf der Promenade. Berndorf erzählte seine Geschichte, so weit er sie in seinem kariösen Englisch zusammenbrachte. Und so weit ihm nicht der Wind die Worte vom Mund riss.
    Rabinovitch hörte schweigend zu. »Ihre Beweise sind nicht die stärksten«, sagte er dann. »Wir haben zwar einen Fachmann, der die Fotografien vergleichen kann. Ob der Mann auf den Bildern von 1944 derselbe ist wie der fünfzig Jahre später. Aber ein Beweis ist das nicht.«
    »Ich weiß«, sagte Berndorf. »Aber vielleicht hat die Obduktion etwas gebracht.«
     
    Im Besprechungszimmer der Ulmer Staatsanwaltschaft begrüßte der Leitende Oberstaatsanwalt Müller-Köpf eine Runde von Männern und dankte ihnen, dass sie so schnell seiner Einladung gefolgt seien. Der Zweck der Zusammenkunft sei klar, sagte Müller-Köpf. »Sie alle haben Kenntnis von den Beschuldigungen,
die der suspendierte Kriminalbeamte Berndorf schriftlich gegen Herrn Professor Twienholt erhoben hat. Sie alle wissen auch, dass Herr Professor Twienholt ein sehr angesehener Bürger dieser Stadt ist.« Niemand sagte etwas.
    »Davon abgesehen«, fuhr Müller-Köpf fort, »ist mir vom Staatsministerium sehr deutlich dargelegt worden, dass von Professor Twienholt ganz wesentlich die Bereitschaft eines bedeutenden Schweizer Unternehmens abhängt, in Baden-Württemberg Arbeitsplätze zu erhalten oder auszubauen.« Müller-Köpf schwieg.
    Dann fuhr er fort: »Selbstverständlich kann dies auf unsere Entscheidung keinen Einfluss haben. Aber wir sollten doch sehr sorgfältig prüfen, welches Gewicht den von Herrn Berndorf erhobenen Vorwürfen zukommt.«
    »Das ist doch alles substanzloses Zeug«, sagte Steinbronner. »Berndorf behauptet, dass Twienholt dieser NS-Arzt Hendriksen sei, der angeblich – ich betone: angeblich – vor über einem halben Jahrhundert irgendwelche Straftaten begangen haben soll. Und die Beweise? Zwei oder drei Fotos, die ebenfalls über ein halbes Jahrhundert alt sind. Was weiß ich, wie ich in fünfzig Jahren aussehe! Und das sollen Beweise sein.«
    »Ganz so ist es nicht«, warf Staatsanwalt Desarts an. »Fragen Sie doch mal Kovacz.«
    Der Gerichtsmediziner, der mit gesenktem Kopf in der Runde gesessen hatte, warf einen Blick auf Steinbronner. »Ich habe Ihnen nichts zu beweisen«, sagte er. »Ich kann Ihnen nur von einigen Untersuchungsergebnissen berichten. Vielleicht ist es für Sie von Interesse, dass der Mann, der 1945 unter dem Namen Hendriksen beerdigt wurde, nach dem Ergebnis einer vergleichenden DNS-Analyse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Vater des Heinz Tiefenbach war, der hier in Ulm am 15. Januar dieses Jahres zu Tode kam. Was das für Sie bedeutet, müssen Sie selbst wissen.«

    »Nichts bedeutet das«, sagte Steinbronner. »Absolut nichts. Was wissen wir, welche Männer damals welche Kinder gezeugt haben.«
    »Wenn es aber Hinweise gibt, dass der Vater dieses Tiefenbach ein Gustav Twienholt aus Muskau war, haben wir ein Problem«, sagte Desarts. »Professor Twienholt ist laut eigenem Lebenslauf ebenfalls in Muskau geboren. Es gab in Muskau aber keine zwei Familien dieses Namens. Gustav Twienholt kann nicht zugleich Tiefenbachs Vater gewesen sein und heute noch am Leben.«
    »Da lachen ja die Hühner«, sagte Steinbronner. »Was wissen Sie denn, für wen und wo die Mutter Tiefenbach die Beine breit gemacht hat?«
    »Diese Ausdrucksweise ist hier nicht üblich«, sagte Müller-Köpf. Steinbronner machte eine entschuldigende Handbewegung.
    »Es gibt da noch etwas«, sagte Kovacz. »Im Skelett des Toten von 1945 habe ich eine Kugel gefunden. Sie ist in einem Rückenwirbel stecken geblieben.«
    »Viele, die 1945 zu Tode gekommen sind, hatten eine Kugel im Leib«, sagte Steinbronner.
    »Gewiss«, antwortete Kovacz. »Aber dieser Tote, der unter dem Namen Hendriksen bestattet wurde, soll bei einem Tieffliegerangriff umgekommen sein. Die Kugel, die ich gefunden habe, gehörte zu einem Geschoss vom Kaliber 7,65 Millimeter. Ich glaube nicht, dass die alliierten Tiefflieger mit Walther-Pistolen auf die Deutschen geschossen haben.«
     
    Eine Stunde später machte sich Kovacz daran, seinen Abschlussbericht über die Autopsie des angeblichen Hendriksen

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