Der Schatten erhebt sich
es auffiel. Es wäre allerdings schon hilfreich gewesen, hätte sie wenigstens etwas Geschick dabei an den Tag gelegt.
Immerhin war es ein wunderbarer Morgen, gerade recht, um sich draußen im Freien aufzuhalten. Eine goldene Sonne hatte sich eben über den Horizont erhoben und am Himmel schienen selbst die wenigen Schäfchenwolken perfekt arrangiert. Eine zarte Brise brachte den Duft nach Rosen mit sich und zauste leicht an den hohen Calma-Büschen mit ihren großen roten und weißen Blüten. Bald würden immer mehr Menschen über die Kieswege zwischen den Bäumen schlendern oder in Erfüllung ihrer Aufträge eilen, von Aes Sedai bis zu Stallburschen. Ein vollkommener Morgen und ein hervorragender Platz, um unbemerkt zu beobachten. Vielleicht würde sie heute auch etwas Brauchbares aus der Zukunft sehen.
»Elmindreda?« Min fuhr hoch und mußte sich dann einen gestochenen Finger in den Mund stecken. Sie drehte sich auf der Bank um und wollte Gawyn ausschimpfen, weil er sich so an sie angeschlichen hatte, doch die Worte erstarben ihr im Mund. Galad befand sich bei ihm. Er war größer als Gawyn, hatte lange Beine und bewegte sich mit der Grazie eines Tänzers, dabei aber auf eine sehnige Art kraftvoll. Auch seine Hände waren lang, elegant und doch stark. Und sein Gesicht... Er war ganz einfach der schönste Mann, den sie je gesehen hatte.
»Hör auf, an deinem Finger zu lutschen«, sagte Gawyn grinsend. »Wir wissen, daß du ein hübsches, kleines Mädchen bist. Du mußt es uns nicht beweisen.« Sie errötete und nahm schnell den Finger aus dem Mund. Sie konnte gerade noch einen wütenden Blick unterdrücken, der ganz und gar nicht dem Charakter Elmindredas entsprochen hätte. Er hatte keine Drohungen oder Befehle der Amyrlin benötigt, um ihr Geheimnis zu wahren. Sie hatte ihn nur einfach darum bitten müssen. Doch er benützte jede mögliche Gelegenheit, um sie damit aufzuziehen. »Es ist nicht schön, sich über jemanden lustig zu machen, Gawyn«, sagte Galad. »Er wollte Euch nicht kränken, Frau Elmindreda. Verzeiht, aber kann es sein, daß wir uns schon einmal kennengelernt haben? Als Ihr Gawyn eben so finster angeblickt habt, hatte ich das Gefühl, Euch zu kennen.« Min senkte scheu den Blick. »Oh, ich könnte es niemals vergessen, wenn ich Euch kennengelernt hätte, Lord Galad«, sagte sie in ihrem besten Dummchen-Tonfall. Das und dazu der Ärger über ihre Unaufmerksamkeit ließen eine Hitzewelle bis an ihre Haarspitzen aufsteigen, was ihr Täuschungsmanöver nur unterstrich.
Sie sah ja völlig verändert aus, wobei Kleid und Frisur nur einen Teil der Veränderungen darstellten. Leane hatte in der Stadt Cremes und Puder und eine unglaubliche Anzahl von geheimnisvoll duftenden Sachen aufgetrieben und sie in deren Gebrauch unterwiesen, bis sie alles im Schlaf beherrschte. Nun hatte sie betonte Wangenknochen und mehr Farbe auf den Lippen, als die Natur ihr mitgegeben hatte. Eine dunkle Creme, mit der sie ihre Augenlider umrahmt hatte, und ein feiner Puder zur Hervorhebung ihrer Wimpern ließen die Augen größer erscheinen. Das war ganz und gar nicht sie selbst. Ein paar Novizinnen hatten ihr bewundernd gesagt, wie schön sie sei, und sogar einige Aes Sedai hatten sie als ›sehr hübsches Kind‹ bezeichnet. Das war ihr entschieden zuwider. Sie gab ja zu, daß es ein hübsches Kleid war, aber den Rest konnte sie nicht ausstehen. Doch natürlich hatte eine Verkleidung keinen Zweck, die man nicht aufrechterhielt.
»Ich bin sicher, daß du dich daran erinnern würdest«, sagte Gawyn trocken. »Ich wollte dich nicht bei deiner Stickerei stören - Schwalben, nicht wahr? Gelbe Schwalben?« Min steckte den Rahmen in den Korb zurück. »Aber ich wollte dich eigentlich bitten, mir dazu etwas zu sagen.« Er drückte ihr ein kleines, ledergebundenes, altes und zerfleddertes Buch in die Hand, und mit einemmal klang seine Stimme ernst. »Sag meinem Bruder, daß es Unsinn ist. Vielleicht hört er auf dich.« Sie betrachtete das Buch. Der Weg des Lichts von Lothair Mantelar. Sie öffnete es und las aufs Geratewohl. »Schwört deshalb allem Vergnügen ab, denn Güte ist ein reines Abstraktum, ein vollkommenes, kristallreines Ideal, das von jedem niederen Gefühl getrübt wird. Pflegt nicht das Fleisch. Das Fleisch ist schwach, doch der Geist ist stark. Das Fleisch ist nutzlos, während der Geist stark ist. Der richtige Gedanke ertrinkt in Gefühlen, und die richtige Handlungsweise wird von Leidenschaften behindert.
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