Der Schatten erhebt sich
dieser Tür war allerdings diesmal kein Wappen angebracht. Tairenische Adelige halfen den Aes Sedai nur gezwungenermaßen, obwohl ihr Lächeln dabei so strahlend wirkte, denn niemand wollte seinen Namen mit der Weißen Burg in Verbindung bringen lassen.
Elayne war dankbar, aussteigen zu können. Sie wartete nicht erst auf Nynaeve, die ihren leichten blauen Leinenumhang zurechtzupfte. Die Straßen der Maule waren wegen der vielen Karren und Planwagen von tiefen Furchen durchzogen, und die Lederfederung der Kutsche war nicht gerade weich. Die Brise, die über den Erinin wehte, schien ihnen kühl nach der Hitze im Stein. Sie hatte sich die Anstrengung der Fahrt nicht anmerken lassen wollen, aber sobald sie draußen stand, rieb sie sich doch den Rücken. Wenigstens war es durch den Regen letzte Nacht nicht so staubig, dachte sie. Sie vermutete, daß man ihnen absichtlich eine Kutsche ohne Vorhänge zur Verfügung gestellt hatte.
Nördlich und südlich von ihr erstreckten sich weitere Landestege wie breite steinerne Finger in den Fluß hinaus. Es roch nach Teer und Tauen, nach Fisch und Gewürzen und Olivenöl, nach namenlosen Dingen, die im trüben Brackwasser zwischen den Stegen verrotteten, und nach eigenartigen, gelbgrünen Früchten, die in riesigen Bündeln vor einem Lagerhaus in ihrem Rücken aufgestapelt lagen. Trotz der frühen Stunde eilten Männer mit Lederwämsern auf den nackten Schultern geschäftig hin und her, schleppten auf gekrümmtem Buckel große Bündel einher oder schoben Handwagen mit aufgestapelten Fässern oder Kisten herum. Keiner warf ihr mehr als einen kurzen, mürrischen Blick zu. Die dunklen Augen wandten sich schnell ab, die Stirn wurde unwillig zum Gruß berührt, und die meisten hoben dabei noch nicht einmal den Kopf. Es stimmte sie traurig, das zu sehen.
Diese Adeligen aus Tear behandelten ihr Volk schlimm. ›Mißhandeln‹ war ein besserer Ausdruck dafür. In Andor wären ihr ein freundliches Lächeln und respektvolle Grüße gewiß gewesen, freiwillig dargebracht von stolz aufgerichteten Menschen, die ihren eigenen Wert genauso kannten wie den ihren. Fast hätte sie es bereut, jemals von zu Hause fortgegangen zu sein. Sie war dazu erzogen worden, eines Tages ein stolzes Volk zu führen und zu regieren, und sie wünschte sich, diesen Menschen hier etwas über Würde erzählen zu dürfen. Aber das war Rands Aufgabe und nicht ihre. Und wenn er das nicht gut macht, werde ich ihm einiges erzählen. Eine ganze Menge sogar! Zumindest hatte er damit angefangen und ihre Ratschläge beherzigt. Und sie mußte zugeben, daß er wußte, wie man Menschen gewann. Es würde interessant sein, bei ihrer Rückkehr festzustellen, was er zuwege gebracht hatte.
Wenn die Rückkehr überhaupt noch einen Sinn hat.
Von ihrem Standort aus konnte sie ein Dutzend Schiffe klar ausmachen, und jenseits von ihnen lagen weitere. Doch eines davon, am Ende des Piers vertäut, auf dem sie stand, den schmalen Bug flußaufwärts gerichtet, stach ihr besonders ins Auge. Der Klipper der Meerleute war bestimmt hundert Schritt lang und damit um die Hälfte größer als das ihr nächstgelegene Schiff. Drei hoch aufragende Maste befanden sich mittschiffs und dazu am Heck noch ein kleinerer auf dem erhöhten Achterdeck. Sie war schon zuvor an Bord von Schiffen gewesen, doch nie auf einem so großen, das auch noch das offene Meer befuhr. Allein schon der Name der Eigentümer sprach von fernen Ländern und fremden Häfen: die Atha'an Miere. Das Meervolk. In Geschichten, die exotisch klingen sollten, kam immer das Meervolk vor, außer wenn es um die Aiel ging.
Nynaeve kletterte hinter ihr aus der Kutsche, band sich den grünen Reiseumhang am Hals zu und fluchte leise über den Kutscher, so daß auch er es verstehen konnte. »Wie eine Henne im Sturm hin und her geschleudert! Wie ein staubiger Läufer durchgeklopft! Wie hat er es nur geschafft, zwischen dem Stein und dem Hafen jede Furche und jedes Schlagloch aufzuspüren? Dazu gehört wirklich Geschick. Wie schade, daß ihm das bei der Behandlung von Pferden dafür abgeht.« Der Kutscher bemühte sich mit saurem Gesichtsausdruck, ihr herunterzuhelfen, doch sie nahm seine Hilfe nicht an.
Seufzend verdoppelte Elayne die Menge der Silbermünzen, die sie gerade aus ihrer Börse nahm. »Danke, daß Ihr uns sicher und schnell hergebracht habt.« Sie lächelte, als sie ihm die Münzen in die Hand drückte. »Wir hatten Euch ja schließlich gebeten, schnell zu fahren, und Ihr seid
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