Der Schatten erhebt sich
Sicherheit jener bewegten, die ihre Aufgaben gut genug kennen, um sie automatisch ausführen zu können, sich aber trotzdem darauf konzentrierten. In ihren Bewegungen lag ein Sich-Wiegen, eine Eleganz, als fühlten sie die Bewegung der See noch immer, obwohl sie im Hafen lagen. Die meisten trugen goldene oder silberne Ketten um den Hals und Ringe in den Ohren, manchmal sogar zwei oder drei in einem, und ein paar davon wiesen glänzende Halbedelsteine auf.
Die Besatzung bestand zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen, und auch die holten Taue ein oder führten andere Männerarbeiten aus, trugen die gleichen Tätowierungen auf den Händen und hatten die gleichen Pumphosen aus dunklem Ölzeug an, die an den Fußgelenken offenstanden und oben von bunten, schmalen Schärpen gehalten wurden. Aber die Frauen trugen dazu lose hängende bunte Blusen in leuchtendem Rot oder Blau oder Grün, und man sah bei ihnen mindestens ebenso viele Halsketten und Ohrringe wie bei den Männern. Elayne bemerkte leicht erschrocken, daß zwei oder drei Frauen sogar Ringe in ihrem Nasenflügel stecken hatten.
Die Grazie in den Bewegungen der Frauen übertraf sogar die der meisten Männer und rief Elayne einige Geschichten in Erinnerung, die sie als Kind aufgeschnappt hatte, als sie eigentlich nicht hatte lauschen dürfen. Die Frauen der Atha'an Miere waren darin der Inbegriff verlockender Schönheit und unwiderstehlicher Reize gewesen, denen sich kein Mann entziehen konnte. Die Frauen auf diesem Schiff waren in Wirklichkeit auch nicht schöner als andere, aber wenn sie ihre Bewegungen beobachtete, verstand sie diese alten Erzählungen.
Zwei der Frauen, die auf dem erhöhten Achterdeck standen, gehörten offensichtlich nicht zur normalen Besatzung. Auch sie waren barfuß, und ihre Kleidung entsprach dem üblichen Schnitt auf diesem Schiff, doch die eine war ganz in kunstvoll umsäumte blaue Seide gekleidet und die andere in ebensolche grüne. Die ältere der beiden, die in Grün, trug in jedem Ohrläppchen vier kleine, in der Morgensonne glitzernden Goldringe und einen weiteren im linken Nasenflügel. Von dem winzigen Nasenring zog sich ein ganz feines Kettchen zu einem Ohrring hinüber, und daran baumelte eine Reihe kleiner Goldmedaillons. An einer ihrer Halsketten hing ein kleiner goldener Behälter, kunstvoll verarbeitet wie zu Goldspitze, den sie von Zeit zu Zeit leicht anhob, um daran zu riechen. Die andere, etwas größere Frau trug insgesamt nur sechs Ohrringe und auch weniger Medaillons; aber der durchbrochene Goldbehälter, an dem auch sie in Abständen roch, war mindestens genauso fein gearbeitet. Das war nun wirklich exotisch. Elayne verzog allerdings das Gesicht, wenn sie an diese Nasenringe dachte. Und dann auch noch die Kette!
Etwas Eigenartiges am Heck des Schiffes fiel ihr auf, aber zunächst war ihr selbst nicht klar, was es sein könne. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Es gab keinen Ruderbaum. Anstelle des üblichen Steuerruders stand hinter den beiden Frauen eine Art hölzernes Speichenrad, das festgebunden war, damit es sich nicht drehen konnte. Aber kein Ruderbaum! Wie steuern sie das Ding? Selbst der kleinste Flußkahn, den sie gesehen hatte, besaß noch ein Steuerruder, so wie auch jedes der anderen Schiffe, die hier im Hafen vertäut lagen. Immer geheimnisvoller wurde ihr dieses Meervolk.
»Denk daran, was Moiraine dir gesagt hat«, mahnte sie Nynaeve zur Vorsicht, als sie zum Achterdeck gingen. Es war nicht viel gewesen; selbst die Aes Sedai hatte nur wenig von den Atha'an Miere gewußt. Moiraine hatte ihnen gesagt, wie man die höhergestellten Mitglieder des Meervolks ansprechen solle und was bei ihnen als gute Manieren galt. »Und denk auch daran, taktvoll zu sein«, flüsterte sie energisch.
»Ich werde schon daran denken«, erwiderte Nynaeve in scharfem Ton. »Ich kann durchaus taktvoll sein.« Elayne hoffte inbrünstig, daß dem so sei.
Die beiden Meervolk-Frauen warteten am oberen Ende der Treppe auf sie. Elayne erinnerte sich daran, daß man die Treppe an Bord eines Schiffes eigentlich Leiter nannte. Sie verstand nicht, warum man bei einem Schiff andere Bezeichnungen für so alltägliche Dinge verwandte. Ein Fußboden war ein Fußboden, ob in einer Scheune, einer Schenke oder einem Palast. Warum nicht auch auf einem Schiff? Eine Parfumwolke umgab die beiden. Der Duft erinnerte leicht an Moschus und kam aus den kleinen Goldbehältern. Die Tätowierungen auf ihren Händen stellten Sterne und
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