Der Schatten erhebt sich
Rands Hengst oder auch dem von Lan in puncto Schnelligkeit und Ausdauer mithalten konnte. Mats Entschluß mitzukommen hatte die anderen überrascht. Rand wußte immer noch nicht, warum er mitkam. Vielleicht aus Freundschaft, vielleicht aber auch nicht. Mat verhielt sich manchmal recht eigenartig.
»Hat dir deine Freundin Aviendha nichts von ›dem Fünftel‹ erklärt?« fragte er.
»Sie hat etwas erwähnt, aber... Rand, du glaubst doch nicht, daß sie auch Sachen... mitgenommen hat?« Hinter Moiraine und Lan, hinter Mat und hinter Rhuarc, der an ihrer Spitze schritt, marschierten die Aiel in zwei langen Reihen außen neben schwer beladenen Packeseln, immer vier nebeneinander in einer Reihe. Wenn die Aiel eine der Festungen ihrer verfeindeten Clans in der Wüste einnahmen, dann verlangte die Sitte - Rand verstand auch nicht genau, warum -, daß sie als Beute genau ein Fünftel von allem mitnahmen, ausgenommen Lebensmittel. Sie hatten keinen Grund, den Stein auszunehmen. Allerdings enthielten die Lasten der Maulesel nicht einmal den fünften Teil eines Fünftels der Schätze des Steins. Rhuarc meinte, die Gier habe schon mehr Menschen umgebracht als Stahl. Die Tragkörbe waren nur leicht beladen. Obenauf lagen zusammengerollte Teppiche und Wandbehänge. Vor ihnen lag ein möglicherweise schwerer Übergang über das Rückgrat der Welt und dann ein noch viel beschwerlicherer Weg durch die Wüste.
Wann sage ich es ihnen? fragte er sich. Bald, es muß bald geschehen. Moiraine würde es zweifellos für wagemutig halten, einen kühnen Streich. Vielleicht stimmte sie sogar zu. Vielleicht. Sie glaubte, nun seinen ganzen Plan zu kennen und machte kein Hehl aus ihrer Mißbilligung. Ohne Zweifel wollte sie, daß er es schnell hinter sich brachte. Aber die Aiel... Und wenn sie sich weigern? Nun, wenn sie sich sperren, dann sollen sie. Ich muß es tun. Was das Fünftel betraf... Er glaubte nicht, daß es möglich gewesen wäre, die Aiel davon abzuhalten, etwas mitzunehmen, und er hatte es gar nicht versucht. Sie hatten sich eine Belohnung verdient, und er hatte nicht vor, den tairenischen Lords zu helfen, einen Besitz zu wahren, den sie über Jahrhunderte hinweg ihren Untertanen geraubt hatten. »Ich habe gesehen, wie sie Rhuarc eine silberne Schüssel zeigte«, sagte er zu Egwene. »Es hat in ihrem Sack geklappert, als sie die Schüssel hineinsteckte. Da war noch mehr Silber drin, oder auch Gold. Mißbilligst du das?« »Nein.« Sie zog das Wort in die Länge, um ein wenig Zweifel anzudeuten, aber dann klang ihre Stimme wieder fester. »Ich hatte einfach nicht daran gedacht... Die Tairener hätten nicht nur ein Fünftel mitgenommen, wäre die Lage umgekehrt gewesen. Sie hätten alles weggekarrt, was nicht festgenagelt war, und sie hätten noch Karren gestohlen, um alles wegzutransportieren. Nur weil sich die Sitten unterscheiden, heißt das nicht, daß einer recht hat und der andere nicht, Rand. Das solltest du doch wissen.« Er lachte leise. Das war fast wie in alten Zeiten. Er wollte ihr erklären, warum sie unrecht hatte, und sie nahm plötzlich seine Position ein und gab ihm seine eigene noch nicht ausgesprochene Begründung zu verstehen. Sein Hengst tänzelte ein wenig. Er hatte wohl seine heitere Stimmung mitempfunden. Er tätschelte den Hals des Apfelschimmels. Ein guter Tag.
»Das ist ein schönes Pferd«, sagte sie. »Wie hast du ihn genannt?« »Jeade'en«, sagte er vorsichtig, und etwas von seiner guten Laune ging verloren. Er schämte sich ein wenig des Namens und der Gründe, aus denen er ihn so genannt hatte. Eines seiner Lieblingsbücher war immer schon Die Reisen des Jain Fernstreicher gewesen, und dieser große Reisende hatte sein Pferd Jeade'en genannt - der ›Heimkehrer‹, in der Alten Sprache - denn das Tier war immer in der Lage gewesen, wieder nach Hause zurückzufinden. Es war ein schöner Gedanke, daß Jeade'en auch ihn eines Tages nach Hause zurücktragen könne. Schön, aber unwahrscheinlich, und er wollte nicht, daß irgend jemand den Grund seiner Namensgebung erfuhr. Jungenhafte Launen hatten jetzt in seinem Leben keinen Platz mehr. Es gab überhaupt keinen Platz mehr, außer eben für das, was er tun mußte.
»Ein schöner Name«, sagte sie abwesend. Er wußte, auch sie hatte das Buch gelesen, und erwartete fast, daß sie den Namen erkannte, aber sie schien über etwas anderem zu brüten. Sie kaute die ganze Zeit auf ihrer Unterlippe.
Er beließ es bei dem Schweigen. Die letzten Ausläufer der
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