Der Schatten erhebt sich
blickte zu den in der Ferne hoch aufragenden Bergen hinüber. Für die Aiel war das wirklich ein passender Name. Ihr eigener geheimer Name, den sie niemandem sonst mitteilten, war: Das Volk des Drachens. Er wußte nicht, warum, nur, daß niemand die Bezeichnung aussprach, außer beim Empfang seines Speers in der Kriegerweihe. Was lag jenseits dieser Drachenmauer? Bestimmt würde es wenigstens Menschen geben, gegen die man kämpfen konnte. Die gab es überall. In der ganzen weiten Welt gab es nur Aiel, Jenn und Feinde. Nur das. Aiel, Jenn und Feinde.
Rand atmete tief ein. Dabei röchelte er beinahe, als habe er stundenlang nicht mehr geatmet. Grell blendende Lichtbänder wanderten die Säulen in seiner Umgebung hoch. Die Worte klangen noch in seinem Gedächtnis nach. Aiel, Jenn und Feinde: das war die Welt. Ganz sicher hatten sie noch nicht in der Wüste gelebt. Er hatte eine Zeit erlebt -gelebt -, bevor die Aiel ihr Dreifaches Land erreicht hatten.
Nun befand er sich noch näher bei Muradin. Der Blick des Aiel flackerte unstet, und er schien sich dagegen zur Wehr zu setzen, einen weiteren Schritt nach vorn zu tun.
Rand trat vor.
Jeordam hockte entspannt auf dem weißverhüllten Abhang und ignorierte die Kälte, während er zusah, wie die fünf Leute auf ihn zustapften. Die drei Männer in ihren warmen Umhängen und die beiden Frauen, die in den Winterkleidern richtig klobig wirkten, hatten Mühe, durch den hohen Schnee zu waten. So, wie die Alten es geschildert hatten, sollte der Winter längst vorüber sein, aber andererseits hieß es ja auch, die Jahreszeiten änderten sich und überhaupt nichts bliebe so wie früher. Sie behaupteten, die Erde hätte gebebt und Berge hätten sich erhoben oder wären eingesunken wie das Wasser in einem Teich, wenn man einen Stein hineinwarf. Jeordam glaubte nicht an diese Geschichten. Er war achtzehn, im Zeltlager geboren, und er kannte nichts anderes als dieses Leben. Den Schnee, die Zelte und die Pflicht, zu behüten und zu beschützen.
Er nahm den Schleier ab und stand gemächlich auf. Er stützte sich auf seinen Langspeer, um die Wagenleute nicht zu erschrecken, aber sie blieben trotzdem wie angewurzelt stehen und starrten den Speer an und den Bogen, den er über den Rücken gehängt hatte. Der gefüllte Köcher an seiner Seite würde ihn auch nicht friedlicher erscheinen lassen. Keiner der Ankömmlinge schien älter zu sein als er selbst. »Ihr braucht uns, Jenn?« rief er.
»Nennt Ihr uns so, um Euch über uns lustig zu machen?« rief ein großer Bursche mit spitzer Nase. »Aber es stimmt. Wir sind die einzigen wirklichen Aiel. Ihr habt den Weg verlassen.« »Das ist eine Lüge!« fauchte Jeordam zurück. »Ich habe nie ein Schwert in die Hand genommen!« Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Er war nicht hier draußen als Wächter aufgestellt worden, um sich mit den Jenn herumzustreiten. »Falls Ihr euch verirrt habt - Eure Wagen findet Ihr in dieser Richtung.« Er deutete mit seinem Speer nach Süden.
Eine Frau legte dem Mann mit der spitzen Nase die Hand auf den Arm und sprach leise auf ihn ein. Die anderen nickten und der Angesprochene nickte schließlich auch, jedoch zögernd. Sie war hübsch. Blonde Haarsträhnen lugten aus der dunklen Stola her aus, die sie um den Kopf gewickelt hatte. Sie sah Jeordam in die Augen und sagte: »Wir haben uns nicht verirrt.« Dann schien sie ihn erst bewußt wahrzunehmen und zog in einem Anflug von Schüchternheit die Stola enger um ihren Kopf.
Er nickte. Er hatte auch nicht wirklich angenommen, sie hätten sich verirrt. Die Jenn schafften es normalerweise, die Zeltbewohner zu meiden, selbst wenn sie Hilfe benötigten. Die wenigen Ausnahmen rührten von blanker Verzweiflung her, wenn sie nirgendwo sonst Hilfe erhalten konnten. »Folgt mir.« Es war eine Meile quer über die Hügel bis zu den Zelten seines Vaters. Ihre dunklen Umrisse waren teilweise vom Neuschnee bedeckt und schienen am Abhang zu kleben. Seine Leute beobachteten mißtrauisch die Neuankömmlinge, hielten aber nicht in ihren Tätigkeiten inne, ob sie nun kochten oder Waffen reparierten oder sich mit den Kindern eine Schneeballschlacht lieferten. Er war stolz auf seine Septime. Es waren beinahe zweihundert Menschen und damit das größte der zehn Lager, die nördlich der Wagen verstreut lagen. Die Jenn schienen jedoch nicht sehr beeindruckt. Es ärgerte ihn, daß es soviel mehr Jenn als Aiel gab.
Lewin kam aus seinem Zelt. Er war ein großer Mann mit leicht
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