Der Schatten erhebt sich
Amathera war da, die hochaufgerichtet daneben stand, mit einem leichten Leinenumhang angetan und die Kapuze über den Kopf gezogen. Das weiße Kleid der Panarchin sah annähernd wie das Kleid einer Dienerin aus, wenn man nicht genau genug hinsah, um zu bemerken, daß es aus Seide war, und der Schleier, der ihr Gesicht allerdings kaum verbarg, war auf jeden Fall aus dem typischen Leinen der Kleidung von Dienerinnen gefertigt. Durch die Tür drangen gedämpfte Schreie. Offensichtlich waren die Auseinandersetzungen noch in vollem Gang. Nun mußten die Männer das ihrige zum Gelingen beitragen.
Nynaeve ignorierte Egeanin und umarmte Elayne, um sie kurz, aber herzlich zu drücken. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Hast du irgendwelche Probleme gehabt?« »Keine Spur«, antwortete Elayne. Egeanin rutschte etwas nervös herum, und die jüngere Frau warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann fügte sie hinzu: »Amathera hat uns ein wenig Schwierigkeiten bereitet, aber das haben wir hingekriegt.« Nynaeve runzelte die Stirn. »Schwierigkeiten? Warum hat sie euch denn Schwierigkeiten bereitet?« Das letztere galt der Panarchin, die mit hocherhobenem Kopf die Blicke der anderen mied. Elayne schien genauso zu zögern.
Es war die Seanchanfrau, die schließlich antwortete: »Sie versuchte, sich wegzuschleichen, um ihre Soldaten anzuweisen, die Schattenfreunde zu vertreiben. Und das, nachdem sie bereits gewarnt worden war.« Nynaeve vermied es, sie anzublicken.
»Schau nicht so finster drein, Nynaeve«, sagte Elayne. »Ich habe sie schnell wieder eingefangen, und wir hatten ein kurzes Gespräch. Ich denke, unser Verhältnis ist jetzt äußerst harmonisch.« In der Wange der Panarchin zuckte ein Muskel. »Wir stimmen vollkommen überein, Aes Sedai«, sagte sie schnell. »Ich werde genau das tun, was Ihr wollt, und ich werde Euch Papiere ausstellen, daß man Euch selbst bei den Rebellen ungehindert durchlassen wird. Es ist nicht notwendig, noch mehr mit mir zu... sprechen.« Elayne nickte, als ergebe das alles einen Sinn, und bedeutete der Frau, den Mund zu halten. Worauf die Panarchin auch gehorsam den Mund schloß. Vielleicht ein wenig mürrisch, aber das lag möglicherweise an der Form ihres Mundes. Es waren eindeutig eigenartige Dinge vorgefallen, und Nynaeve hatte vor, alles darüber in Erfahrung zu bringen. Aber später. Der enge Gang war immer noch in beiden Richtungen menschenleer, doch tiefer aus dem Palast drangen immer noch panische Schreie. Jenseits der kleinen Tür tobte der Mob.
»Aber wie steht's mit dir?« fuhr Elayne stirnrunzelnd fort. »Du hättest schon vor einer halben Stunde hier sein sollen. Hast du all dieses Durcheinander angerichtet? Ich habe gespürt, wie zwei Frauen genug Macht lenkten, um den ganzen Palast zu erschüttern, und ein wenig später hat sich offensichtlich jemand bemüht, ihn abzureißen. Ich dachte, das seist du gewesen. Ich mußte Egeanin davon abhalten, loszugehen, um dich zu suchen.« Egeanin? Nynaeve zögerte und dann überwand sie sich soweit, die Schulter der Seanchanfrau zu berühren. »Danke schön.« Egeanin wirkte, als verstünde sie selbst nicht, warum sie das getan hatte, aber sie nickte zur Erwiderung. »Moghedien hatte mich aufgespürt, und weil ich noch überlegte, wie ich sie heraus und vor Gericht bringen solle, hat mir Jeaine Caide beinahe mit ihrem Baalsfeuer den Kopf abrasiert.« Elayne quiekte erschreckt und Nynaeve beeilte sich, ihr zu versichern: »Na ja, so eng war es gar nicht.« »Du hast Moghedien gefangen? Du hast es geschafft, eine der Verlorenen zu besiegen?« »Ja, aber sie ist entkommen.« So, nun hatte sie alles zugegeben. Sie war sich der Blicke der anderen bewußt und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Sie fühlte sich nicht gern im Unrecht. Besonders mißfiel ihr es, etwas getan zu haben, vor dem sie selbst die anderen zuvor gewarnt hatte. »Elayne, ich weiß, was ich in bezug auf Vorsicht gesagt habe, aber als ich sie in den Fingern hatte, habe ich eben an nichts anderes mehr gedacht, als sie vor Gericht zu bringen.« Sie atmete tief durch und bemühte sich, reumütig zu klingen, auch wenn sie das haßte. Wo blieben denn diese verdammten Männer? »Ich habe alles in Gefahr gebracht, weil ich nicht an unsere Aufgabe dachte, aber sei mir bitte deswegen nicht böse.« »Bin ich auch nicht«, sagte Elayne mit fester Stimme.
»Solange du wenigstens künftig daran denken wirst.« Egeanin räusperte sich. »Oh, ja«, fügte Elayne hastig
Weitere Kostenlose Bücher