Der Schatten erhebt sich
hinzu. Die Warterei schien ihr auf die Nerven zu gehen. Auf ihren Wangen blühten rote Flecke. »Hast du das Halsband und das Siegel gefunden?« »Habe ich.« Sie tätschelte ihre Gürteltasche. Die Schreierei draußen schien lauter zu werden. Genauso wie die Schreie, die durch den Gang hallten. Liandrin stellte wahrscheinlich den Palast auf den Kopf, um herauszufinden, was passiert war. »Was hält die Männer nur so lange auf?« »Meine Legion...«, begann Amathera. Elayne sah sie an und daraufhin klappte sie den Mund wieder zu. Dieses ›Gespräch‹ der beiden mußte ja wohl einiges bewirkt haben. Die Panarchin schmollte wie ein kleines Mädchen, das fürchtet, ohne Abendessen ins Bett geschickt zu werden.
Nynaeve blickte Egeanin an. Die Seanchanfrau beobachtete angestrengt die Tür. Sie hatte ihr zur Hilfe kommen wollen. Warum läßt sie nicht zu, daß ich sie hasse? Bin ich soviel anders als sie?
Plötzlich schwang die Tür auf. Juilin zog zwei dünne, gebogene Drahtstücke aus dem Schloß und richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf. An der Seite seines Gesichts lief Blut herunter. »Macht schnell. Wir müssen weg von hier, bevor uns die Lage aus der Hand gleitet.« Nynaeve blickte mit weit aufgerissenen Augen an ihm vorbei nach draußen und fragte sich, was bei ihm wohl ›aus der Hand gleiten‹ bedeuten mochte. Bayle Domons Seeleute, mindestens dreihundert waren es, bildeten einen doppelten Halbkreis um den Eingang, während Domon selbst einen Knüppel schwang und sie anfeuerte. Er mußte laut brüllen, um den Lärm auf der breiten Straße zu übertönen. Männer drängten sich, kämpften und schrien in einer überkochenden Menge durcheinander. Die Knüppel und Stöcke der Seeleute konnten sie kaum noch zurückhalten. Die Leute waren allerdings an den Matrosen gar nicht interessiert. Mitten in der Menge hieben berittene Weißmäntel mit ihren Schwertern auf Männer ein, die sie mit Mistgabeln, Faßdauben und bloßen Händen angriffen. Ganze Steinschauer hagelten auf sie herab, krachten auf ihre Helme, aber man hörte in dem allgemeinen Lärm nichts davon. Das Pferd eines einzelnen Weißmantels wieherte plötzlich in Panik, bäumte sich auf und stürzte nach hintenüber. Es kam jedoch schnell wieder auf die Beine - nur der Reiter fehlte. In der Menschenmenge liefen noch weitere reiterlose Pferde herum. Hatten sie das alles angerichtet, nur um ihren Rückzug zu decken? Sie bemühte sich, den Zweck dieses Unternehmens in ihr Gedächtnis zurückzurufen, indem sie die Hand auf ihre Gürteltasche legte und nach dem Siegel aus Cuendillar, dem Halsband und den Armbändern tastete, aber es fiel ihr schwer. Dort draußen starben bestimmt Männer ihretwegen.
»Bewegt Ihr Frauen Euch endlich?« rief Thom und winkte ihnen zu, damit sie herauskämen. Er hatte über einer buschigen Augenbraue eine blutende Wunde, vielleicht von einem Stein, und sein brauner Umhang war mittlerweile nicht einmal mehr als Putzlumpen zu gebrauchen. »Falls die Legion der Panarchen ausnahmsweise einmal nicht davonläuft, wird die Sache blutig werden.« Amathera gab einen überraschten Laut von sich, doch dann schob Elayne sie energisch hinaus. Nynaeve und Egeanin folgten, und sobald alle vier Frauen draußen waren, formierten sich die Seeleute in einem engen Ring um sie und begannen, sich vom Palast weg durch die Menge zu kämpfen. Nynaeve mußte alle Kraft aufwenden, um überhaupt auf den Beinen zu bleiben, so drängten sich auf allen Seiten die Männer um sie, die sie ja beschützen sollten. Einmal rutschte Egeanin aus und wäre fast gestürzt, doch Nynaeve fing sie am Arm ab und half ihr wieder auf die Beine. Sie bekam ein dankbares Grinsen dafür ab. Wir sind gar nicht so verschieden, dachte sie. Nicht gleich, aber zumindest recht ähnlich. Sie mußte sich überhaupt nicht mehr zwingen, der Seanchanfrau ermutigend zuzulächeln.
Erst als sie mehrere Straßen weit vom Palast entfernt waren, ließ das Gedränge nach, und bald konnten sie durch beinahe menschenleere, enge, gewundene Straßen gehen. Diejenigen, die nicht eigentlich in die Ausschreitungen verwickelt waren, hüteten sich, in die Nähe zu kommen. Die Seeleute schwärmten ein wenig aus und ließen den Frauen mehr Platz. Doch jeder einzelne, der neugierig in ihre Richtung sah, bekam ein paar harte Blicke zurück. Die Straßen von Tanchico waren immer noch die Straßen von Tanchico. Irgendwie überraschte das Nynaeve. Ihr schien, sie hätten Wochen im Palast verbracht. Die
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