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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Ausdruck
kindlich-unbekümmerter Freude auf seinem Gesicht. Sie
lächelte ihn an, und er zwinkerte ihr zu, dann begann
Mackinnons Nummer.
Man mochte dem Mann sonst vieles vorwerfen, aber er
war ein Künstler. Es war deutlich, dass die Maske nicht
nur dazu diente, seine Identität zu verbergen, sondern ein
wesentlicher Bestandteil seiner Kunst war --- genauso
wichtig wie die weiße Schminke, die er früher benutzt
hatte. Ohne ein Wort zu sprechen, erzeugte er eine
unheimliche Atmosphäre um sich, die noch durch seine
Zaubertricks gesteigert wurde. Als Requisiten
verwendete er Messer und Schwerter, die ihm zum
Schneiden, Stechen und Abtrennen dienten. Seine
Bewegungen, die Pantomimik, vor allem aber die starre
Maske verbreiteten ein Gefühl von Gefahr und
Schrecken. Das Publikum, das sich bis dahin laut und
ungebärdig amüsiert hatte, wurde mit einem Mal
geradezu andächtig still - aus Scheu. Auch Sally ging es
nicht anders. Mackinnon war ein phänomenaler
Zauberkünstler.
Mehrere Minuten lang hatten sie ihm gebannt
zugeschaut, als Jim wieder zu den Logen hinaufsah ---
und Sally aufgeregt am Arm berührte.
»Sie sind weg!«, flüsterte er.
Erschrocken drehte sie sich ebenfalls um und sah, dass
die Loge leer war. Jim fluchte, Frederick richtete sich
auf.
»Sie hatten mehr Geistesgegenwart als wir«, sagte er
leise. »Zum Teufel, sie müssen hinter die Bühne gelangt
sein. Jim, sobald er abgeht, sprinten wir los ---«
Aber dann sorgte Mackinnon selbst für eine
Überraschung. Die Musik hörte mitten im Takt auf, der
Magier stand mit hoch erhobenen Armen da und
schüttelte plötzlich die Hände. Zwei schimmernde
scharlachrote Tücher flossen an seinen Armen herab und
rannen wie Ströme von Blut zu Boden.
Auf einmal gingen alle Lichter aus bis auf einen
Scheinwerfer, der auf ihn gerichtet war. Im Saal
herrschte vollkommene Stille, als er nach vorn auf die
Bühne ging.
»Ladys und Gentlemen«, --- das waren die ersten
Worte, die er überhaupt sprach. Seine Stimme war hell
und melodiös, hatte aber wegen der Maske den
geheimnisvollen Klang eines Orakels in einem alten
Tempel.
Das Orchester war still. Niemand rührte sich. Es schien
so, als halte das ganze Theater den Atem an.
»Unter diesen Seidentüchern«, fuhr er fort, »verbergen
sich zwei mächtige Gaben. In der einen Hand halte ich
einen Edelstein, einen antiken Smaragd von
unschätzbarem Wert; in der anderen halte ich --- einen
Dolch. « Ein Schauder lief durch das Publikum.
»Leben«, raunte er beschwörend, »und Tod. Der
Smaragd wird seinem Besitzer, wenn er ihn verkaufen
möchte, ein Leben in Luxus und Wohlstand bescheren.
Den Dolch aber müsste ich dem Mutigen ins Herz stoßen
--- und mit ihm wird der Tod über ihn kommen. Eine und
nur eine dieser Gaben erhält derjenige, der den Mut hat,
eine schlichte Frage zu beantworten. Antwortet er richtig,
erhält er den Smaragd, antwortet er falsch, erhält er den
Dolch. Doch zuerst die Gaben selbst. «
Er schüttelte die linke Hand. Das Tuch fiel leise
raschelnd zu Boden, während in der Hand ein grünes
Feuer aufblitzte - ein Smaragd von der Größe eines
Hühnereis, der ein meergrünes Leuchten verbreitete. Das
Publikum war von Staunen überwältigt. Er legte ihn
behutsam auf die schwarze Samtdecke eines Tischchens
neben sich.
Dann schüttelte er die andere Hand. Das Tuch fiel
herab, und zum Vorschein kam der blitzende Stahl eines
gut fünfzehn Zentimeter langen Dolches. Er hielt ihn so,
dass die Schneide waagerecht lag. Dann stieß er mit der
anderen Hand in die Luft, und ein weißes Seidentuch
erschien an seinen Fingerspitzen.
»So scharf ist die Schneide«, sagte er, »dass dieses Tuch
allein durch sein Gewicht entzweigeschnitten wird. «
Er hielt das Tuch hoch und ließ es fallen. Es schwebte
langsam auf die Schneide und fiel ohne die kleinste
Verzögerung in zwei Hälften zerschnitten zu Boden.
Wieder ging ein Staunen durch das Publikum, diesmal
aber eher ein Seufzen, das Entsetzen verriet. Auch Sally
war wie gebannt. Sie schüttelte den Kopf und presste die
Knöchel fest aneinander. Wo waren die Männer aus der
Loge? Waren sie schon hinter der Bühne? Lauerten sie in
den Kulissen? »Der Tod durch diesen Dolch«, raunte
Mackinnon, »wäre so sanft und weich wie Seide. Denken
Sie an den Schmerz der Krankheit, das Elend des
Greisenalters, die Verzweiflung der Armut... alles das
wäre in einem kurzen Augenblick für immer verbannt!
Insofern ist dies eine ebenso große Gabe wie der
Edelstein. Vielleicht

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