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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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den Zettel in Schnitzel und
ließ sie durch die Finger gleiten. Sally fühlte sich wie ein
Kaninchen, das vom Blick der Schlange hypnotisiert
wird. Die Entschlossenheit, mit der sie die Bühne
hinaufgestiegen war, hatte sich verflüchtigt und damit
hatte sich die Situation umgekehrt: Noch vor einer
Minute war er in ihrer Gewalt gewesen, nun war sie in
seiner. Sie konnte ihm nicht in die Augen oder auf den
roten Mund sehen, sondern starrte gebannt auf die
Hände, die das Papier zerrissen. Schöne, starke Hände.
War der Dolch echt? Würde er es wagen? Nein, gewiss
nicht --- aber was dann?
Nur eines wusste sie, dass sein Gehirn jetzt mit rasender
Geschwindigkeit arbeitete. Sie hoffte, dass er eine
Lösung finden werde. Der Augenblick der Spannung
konnte nicht länger fortdauern. Er griff nach dem Dolch,
hielt ihn vor sich, fixierte ihn und hob ihn hoch. Er hielt
ihn über sie, starr und kalt wie ein Eiszapfen aus Stahl.
Und dann geschahen mehrere Dinge auf einmal. Ein
greller Schrei kam aus den Kulissen, etwas fiel krachend
zu Boden, worauf offenbar ein heftiger Kampf
entbrannte, weil die Vorhänge hin und her schwankten.
Neben Mackinnon öffnete sich mit lautem Knall eine
Luke und eine quadratische Plattform kam zum
Vorschein. Eine Frau im Publikum schrie, eine weitere
tat es ihr gleich und noch eine und immer so weiter.
Das Orchester spielte in stürmischem Tempo die Musik
aus Faust. Und dann ergriff Mackinnon Sally und zerrte
sie auf die Plattform. Sie spürte seinen Arm um ihre
Taille und wunderte sich über seine Kraft.
Das Licht verwandelte sich in ein flackerndes,
höllisches Rot, als die Plattform mit Mackinnon und
Sally in der Versenkung verschwand. Das Publikum
brach in Heulen und Schreien aus, doch Mackinnons
mächtiges, satanisches Gelächter übertönte alles. Mit
geballter Faust fuhr er in die Finsternis. Über ihren
Köpfen schlug die Luke zu.
Das Getöse draußen war mit einem Mal wie
weggeblasen. Mackinnon sackte zusammen. Er lehnte
sich gegen Sally und zitterte wie ein Kind.
»Oh, bitte helfen sie mir«, stöhnte er.
Von einem Augenblick zum anderen hatte er sich
verwandelt. Im schummerigen Licht hier unten sah sie,
dass seine Maske heruntergerutscht war. Sie nahm sie
ihm ab.
»Rasch --- sagen Sie mir: Warum verfolgt Sie
Bellmann? Ich muss es wissen!«
»Nein, bitte nicht. Er wird mich umbringen! Ich muss
mich verstecken ---«
Er sprach nun mit deutlich schottischem Akzent und in
schrillem, von Panik gezeichnetem Ton. Dabei klatschte
er wie ein unruhiges Kind die Hände zusammen.
»Reden Sie!«, drängte Sally. »Wenn Sie es mir nicht
sagen, überlasse ich Sie denen da draußen. Ich bin von
der Firma Garland. Ich will Ihnen helfen. Fred Garland
und Jim Taylor halten die Verfolger eine Weile auf, aber
wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen, lasse ich Sie im
Stich. Sagen Sie mir jetzt, warum Bellmann hinter Ihnen
her ist, oder ---« »Also gut!«
Er blickte sich um wie ein in die Falle gegangenes Tier.
Sie standen immer noch auf der Plattform. Die
Einrichtung war als Versenkung bekannt und diente
besonders in turbulenten Stücken dem überraschenden
Abgang von Schauspielern. Irgendwo musste ein
Bühnenarbeiter an einer Kurbel drehen, dachte Sally,
aber niemand sonst war zu erkennen.
Dann hörte man das Geratter einer Maschinerie. Sally
sah nur Ketten und Seilzüge, die sich in Bewegung
setzten, aber Mackinnon geriet in Panik, sprang von der
Plattform und eilte zwischen dicken Holzpfeilern davon,
auf denen die Bühnenbretter ruhten. »Nicht da lang!«,
rief Sally mit halb gedämpfter Stimme. Die List verfing.
Er zögerte - und gab ihr Zeit, ihn in ihrem engen Kleid
einzuholen und am Arm zu erwischen. »Nein, Lassen Sie
los ---«
»Jetzt hören Sie mir mal zu, Sie Narr«, zischte sie. »Ich
liefere Sie Bellmann aus, das schwöre ich Ihnen, wenn
Sie mir nicht sagen, was er von Ihnen will. « »Ich rede ---
aber nicht hier ---«
Er blickte nach verschiedenen Seiten, aber Sie ließ ihn
nicht los. Das flimmernde Licht einer gasbetriebenen
Lampe gab ihm ein hysterisches, fast irres Aussehen.
Plötzlich stieg Wut in ihr auf, und sie schüttelte ihn.
»Hören Sie«, sagte sie, »Sie bedeuten mir nichts. Ich
würde Sie am liebsten laufen lassen, aber da ist etwas,
was ich herauskriegen muss. Bei der Sache geht es um
Betrug, einen Schiffbruch und Mord --- und Sie stecken
irgendwie mit drin. Also - warum verfolgt er Sie? Was
will er von Ihnen?«
Er kämpfte, aber sie ließ nicht los, und dann brach er

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