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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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in
Tränen aus. Sally war verblüfft und auch ein bisschen
angewidert. Sie schüttelte ihn jetzt noch heftiger.
»Reden Sie endlich«, drängte sie ihn mit zornbebender
Stimme. »Ist gut, ist gut. Aber eigentlich ist es nicht
Bellmann«, brachte er schließlich hervor, »sondern mein
Vater. «
»Ihr Vater verfolgt Sie? Gut, aber wer ist Ihr Vater?«
»Lord Wytham«, sagte Mackinnon. Sally verschlug es
die Sprache, sie dachte fieberhaft nach. »Beweisen Sie
es«, sagte sie schließlich.
»Fragen Sie meine Mutter. Sie wird es Ihnen sagen, sie
schämt sich meiner nicht. « »Wer ist sie?«
»Ihr Name ist Nellie Budd. Aber ich weiß nicht, wo sie
wohnt. Ich weiß auch nicht, wer Sie sind. Ich versuche
nur, mich im Leben durchzuschlagen und mich in meiner
Kunst zu vervollkommnen. Ich tue niemandem etwas
zuleide. Auch Ihnen habe ich nichts getan. Ich bin
Künstler und brauche meinen Frieden --- warum lässt
man mich nicht in Ruhe? Ich ertrage es nicht, ständig
verfolgt und drangsaliert zu werden. Das ist nicht recht!«
Nellie Budd...
»Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum
Ihr Vater Ihnen keine Ruhe lässt. Und was das mit
Bellmann zu tun hat. Sie machen es sich zu leicht, wenn
Sie sagen, es habe nichts mit ihm zu tun. Sein Sekretär
war heute Abend hier, ein Mann namens Windlesham.
Welche Rolle spielt er?«
Doch ehe Mackinnon antworten konnte, ging irgendwo
über ihnen eine Luke mit lautem Knall auf. Mackinnon
entwand sich ihrem Griff und verschwand im Dunkeln
wie eine Ratte. Sie eilte ihm nach, gab aber die
Verfolgung bald auf. Er war ihr entkommen.
Sie hatte eigentlich erwartet, oben einen Hexenkessel
vorzufinden, weil sie meinte, das Publikum sei immer
noch über ihr Verschwinden aufgebracht. Stattdessen traf
sie einen sich entschuldigenden Inspizienten, eine Bühne
voller Tänzer und Tänzerinnen und ein gut gelauntes
Publikum.
Offenbar hätte ein Bühnenarbeiter unten stehen sollen,
um sie wieder zu ihrem Platz zurückzuführen. Die
Versenkung, die Plattform und das rote Höllenfeuer, alles
war von Mackinnon als Höhepunkt seiner Nummer im
Voraus geplant worden. Sie hatten es zum ersten Mal
vorgeführt und der Inspizient war über die Wirkung
entzückt.
Der Grund, weshalb niemand unten gestanden hatte,
war einfach, dass alle verfügbaren Männer oben
gebraucht wurden, um einen Tumult in den Kulissen
einzudämmen. Wie aus dem Nichts waren plötzlich vier
Männer aufgetaucht und übereinander hergefallen. Erst
nach heftigem Kampf war es gelungen, sie
hinauszuwerfen. Wahrscheinlich steckte wieder ein
zorniger Ehemann dahinter, vermutete der Inspizient.
»Ein zorniger Ehemann?«
»Ja wissen Sie, Mr. Mackinnon hat etwas, das die
Frauen elektrisiert. Sie haben das vielleicht auch gespürt.
Sie fliegen auf ihn wie die Motten ans Licht. Mir ist das
zwar schleierhaft, aber es ist so. Es wäre nicht das erste
Mal, dass es eine Keilerei wegen ihm gegeben hätte. Er
kann den Frauen wirklich den Kopf verdrehen. Aber nun
gebe ich Ihnen einen Botenjungen, der sie an Ihren Platz
zurückführt. Sie haben in der ersten Reihe gesessen,
oder?« »Sehr aufmerksam von Ihnen«, sage Sally, »aber
ich gehe doch lieber. Für heute Abend habe ich genug
Unterhaltung gehabt. Wo geht es hinaus?«
Draußen vor dem Theater eilte sie klopfenden Herzens
zum Bühneneingang und sah dort Frederick, seinen
Spazierstock schwingend, auf der Treppe sitzen, während
Jim, den Blick am Boden, auf und ab wanderte. Außer
ihnen war die Gasse menschenleer. Sie lief zu ihnen und
setzte sich neben Frederick. »Alles in Ordnung? Was ist
passiert?«
Er schaute sie an, und erst jetzt bemerkte sie, dass er
einen Schnitt an der Wange hatte, aber er lächelte. Sie
berührte ihn zärtlich. »Autsch!... Wir haben sie uns
drinnen gekeilt. Das Ganze war ein bisschen eng,
dauernd kam einem der Vorhang in die Quere. Dann hat
man uns hinaus auf die Gasse geworfen, und als ich hier
mein Stöckchen schwingen konnte, da sind wir schnell
mit ihnen fertig geworden. Zwei üble Burschen. Dem
Sackville habe ich eins über den Bregen gezogen, und
Jim hat dem anderen die Nase geplättet, dass es eine Art
hatte. Wir haben uns nicht schlecht amüsiert, ich
zumindest. Hast du ihn immer noch nicht gefunden?«,
fragte er Jim.
Jim grummelte etwas vor sich hin. Sally stand auf, ging
zu ihm und drehte sein Gesicht ins Licht. Seine Lippe
war aufgeplatzt, und als er den Mund aufmachte, sah sie,
dass ihm ein Schneidezahn fehlte. Sie fühlte einen Stich
im Herzen:

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