Der Schatten im Norden
Mr.
Temple. Mr. Temple war ein ironischer alter Herr, den
ein schwacher, aber beständiger Geruch von
Buchbinderleinwand, Kümmelkuchen und Schnupftabak
umgab. Er hatte schon Sallys Vater als Anwalt gedient
und ihr beigestanden, als Hauptmann Lockhart vor sechs
Jahren umgekommen war. Er war von Sallys
Börsenkenntnissen und von ihrem Verständnis für
Wirtschaftsfragen so beeindruckt, dass er seine
altmodischen Vorbehalte gegenüber Frauenarbeit über
Bord warf und ihr half, erst eine geschäftliche
Partnerschaft mit Webster Garland und dann ihr eigenes
Beratungsbüro aufzubauen. Sie schilderte ihm kurz den
Hintergrund des Falles und beschrieb dann Mr.
Windleshams Besuch an diesem Morgen. »Sally«, sagte
er, als sie zum Schluss gekommen war, »du wirst doch
auf dich aufpassen, nicht war?«
»Das hat der kleine Mann auch gesagt. Ich dachte, Sie
könnten mir einen originelleren Rat geben!« Er lächelte
und klopfte an seine Schnupftabakdose. »Die Stärke des
Gesetzes«, dozierte er, »liegt gerade darin, dass es so
wenig originell ist, Gott sei Dank. Erzähl mir nun, was du
über den North-Star-Konzern weißt. «
Sie fasste alles zusammen, was sie wusste, und das war
nicht gerade viel. Allerdings sagte sie nichts von Nellie
Budd, denn sie nahm an, dass Mr. Temple wohl kaum
etwas auf Enthüllungen gab, die eine Dame in Trance aus
der Geisterwelt empfangen hatte. Sie wusste nicht
einmal, was sie selbst davon halten sollte. »Ich weiß
nicht, ob der Schwerpunkt der Konzerntätigkeit in der
Industrie, im Bergbau oder anderswo liegt«, sagte sie
abschließend. »Da ist auch eine Verbindung zu einer
Chemiefirma, aber mehr weiß ich nicht. Was glauben
Sie, warum denen so viel an Geheimhaltung liegt?«
»Chemie«, sagte er nachdenklich, »übel riechendes,
gefährliches Zeug, das aus Behältern ausläuft und das
Trinkwasser verseucht... Ist Bellmann immer noch in der
Zündholzfertigung?« »Nein, seine Fabrik in Schweden
wurde nach einer Untersuchung der Behörden
geschlossen. Es stellte sich jedoch heraus, dass er sie im
Jahr zuvor verkauft hatte, so war er juristisch nicht zu
belangen. « »Ich für meinen Teil bin vor ein paar Tagen
ganz zufällig in einem anderen Zusammenhang auf den
Namen North Star gestoßen. In meinem Klub sprach
jemand über genossenschaftlich organisierte Betriebe,
Gewerkschaften und dergleichen, und er erwähnte ein
neues Unternehmen, das oben in Lancashire nach
ziemlich merkwürdigen Prinzipien geführt werde --- so
genau habe ich nicht zugehört, schließlich gehe ich nicht
in den Klub, um mir Soziologievorlesungen anzuhören -,
jedenfalls habe die Unternehmensführung den Ehrgeiz,
das Leben der Arbeiter bis ins Letzte zu bestimmen. Wie
bei manchen Weltbeglückern wird dort eine lückenlose
Kontrolle von der Wiege bis zur Bahre angestrebt. Für
meine Begriffe erschreckend. Warum ich aber überhaupt
davon erzähle, der Name dieser Firma war eben North
Star. « Sally richtete sich auf und lächelte. »Endlich!«
»Wie bitte?«
»Das ist endlich ein Hinweis. Was macht diese Firma?«
»Oh, das wusste der Herr aus dem Klub nicht.
Irgendetwas mit Eisenbahnen, vermutete er... Ein Glas
Sherry?« Sie nahm dankend an. Während der Anwalt
Sherry in Gläser einschenkte, beobachtete sie die
Staubkörnchen, die im schräg einfallenden Sonnenlicht
tanzten. Mr. Temple war ein alter Freund, der sie schon
oft zu sich nach Hause zum Abendessen eingeladen hatte,
aber nach wie vor fühlte sie sich nicht ganz wohl, wenn
es nichts Geschäftliches mehr zu bereden gab. Was
anderen jungen Frauen keine Schwierigkeiten bereitete plaudern, tanzen, beim Diner mit dem Tischnachbarn
flirten und beim jeweiligen Speisegang stets die richtige
Gabel und das richtige Messer wählen - brachte sie
immer noch in Verlegenheit und schmerzte wegen ihrer
Erinnerungen an demütigende Erlebnisse. Wenn es nicht
um Akten und Bilanzen ging, fühlte sie sich nur in der
fröhlichen Unordnung der Garland-Sippe wirklich zu
Hause. Sie fand keine Worte und nippte nur an ihrem
Glas, während Mr. Temple die Akten durchblätterte, die
sie mitgebracht hatte.
»Nordenfels... «, sagte Mr. Temple. »Wer ist das? Sein
Name taucht öfters auf. «
»Bellmann hatte einen Partner namens Nordenfels --- er
war Konstrukteur. Erst gestern habe ich einen Artikel im Journal of the Royal Society of Engineers gelesen, wo
von ihm die Rede war. Er hat eine neue Art von
Sicherheitsventil erfunden; es soll auch bei sehr hohen
Temperaturen oder extremen
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