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Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger Frimansson
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aufstellen.
    Feierlich nahm er die Kleider aus dem Beutel. Ein paar grobe, weiße lange Hosen und eine weiße Jacke ohne Knöpfe. Er bohrte seine Nase in den Hosenstoff, aber der Geruch von Nathan hatte sich längst verflüchtigt. Er hielt sie hoch. Ja, sie musste passen.
    Man muss würdig gekleidet sein, wenn der Tod naht.
    Wie groß war sie? Vielleicht ungefähr wie er. Weiß gekleidet wie eine Heilige, aber niedergerungen.
    Denn es ist Zeit jetzt, Mrs. Tucker. Die Vergangenheit holt einen immer ein. Du hast ihn im Stich gelassen, nicht nur einmal, sondern zweimal, zwei Mal, Mrs. Tucker. Jetzt erhältst du deine Strafe.

ARIADNE DRÜCKTE DEN TÜRGRIFF zu Christas Zimmertür herunter. Irgendetwas klemmte. Die Tür ließ sich nicht öffnen.
    »Christa!«, rief sie. »Was machst du denn?«
    Keine Antwort.
    Sie versuchte es noch einmal, nahm ihre ganze Kraft zusammen. Die Tür bewegte sich jetzt einen Spalt breit.
    »Christa!«, rief sie erneut. »Was hast du vor? Wir beide müssen miteinander reden.«
    Aus dem Zimmer drang ein verzweifeltes Brüllen. Danach eine Serie von schnellen Schlägen und Gepolter. Ariadne blieb mit hängenden Armen stehen. Ihr zog sich das Herz zusammen. Sie rüttelte heftig am Türgriff und rief ein ums andere Mal. Dann nahm sie Anlauf, warf sich mit ihrem Körper gegen die Tür und konnte sie schließlich so weit aufschieben, dass sie sich hindurchquetschen konnte. Im Zimmer war es dunkel. Sie knipste die Deckenlampe an. Es herrschte totales Chaos. Die Möbel waren umgekippt, das Bett von der Wand gezogen, die Plastikbehälter aus dem Kleiderschrank gerissen und wahllos ausgeleert.
    »Christa?«, schrie sie, sodass ihre Stimme sich überschlug, vor Entsetzen brach.
    Das Mädchen saß hinter dem Bett. Die bleichen, rundlichen Hände hatte es an die Stirn gepresst. Sie schluchzte und bebte, gab aber kein Wort von sich. Ariadne bahnte sich einen Weg zu ihr, kroch aufs Bett und beugte sich vor. Im selben Augenblick bekam sie einen Stoß gegen die Brust, sodass sie rücklings in die Bettwäsche fiel.
    »Geh!«, schrie das Mädchen.
    Ariadne kam auf die Knie.
    »Christa!«
    »Geh!«
    Da schlug sie zu. Gott mochte ihr verzeihen, aber sie schlug zu. Mit der flachen Hand, direkt auf die runde Wange des Mädchens, einmal, zweimal, dreimal. Christa öffnete den Mund zu einer Grimasse und starrte sie mit leerem Blick an. Aber sie sagte keinen Mucks.
    »Verzeih mir, Christa. Aber du hast mich gezwungen, du bist hysterisch geworden.«
    Es gelang ihr, den Arm ihrer Tochter zu umfassen und sie in den Raum zu ziehen. Das Mädchen folgte ihr, plötzlich willenlos wie eine Schlafwandlerin oder ein ermattetes, gejagtes Tier. Sie führte sie ins Wohnzimmer, drückte sie aufs Sofa hinunter und setzte sich dicht neben sie. Draußen war es inzwischen ziemlich dunkel geworden. Regentropfen glänzten auf den Fensterscheiben.
    Sie hielt das Mädchen, umarmte es, flüsterte Worte an seiner Stirn, Worte in ihrer Heimatsprache, Reime und Kinderlieder, die sie Christa immer vorgesungen hatte, als sie noch klein war. Allerdings nur heimlich, denn Tommy wollte es nicht. Sie soll von Anfang an eine korrekte Sprache lernen und nicht so ein Rinkeby-Schwedisch, mit dem sie noch mehr in die Defensive gerät.
    Nach und nach entspannte sich das Mädchen.
    »Wie stark es regnet«, stellte Ariadne fest. »Hörst du, wie es regnet?«
    »Mmm.«
    »Es ist schön, hier drinnen im Warmen zu sitzen.«
    »Mmm.«
    »Papa und du …«
    »Papa ist tot!«, schrie sie. »Ich weiß, dass Papa tot ist!«
    »Der Arzt hat angerufen, sie konnten ihn nicht mehr retten.«
    »Ich weiß.«
    »Ja.«
    »Wir waren im Wald, er war so fröhlich, ich mochte es, wenn Papa so fröhlich war.«
    »Ja, mein Liebling«, sagte sie tonlos. »Das mochte ich auch.«
    Christa begann zu weinen. Ihr Weinen ließ Ariadne ebenfalls in Tränen ausbrechen. Sie zog ihrer Tochter die Kleider aus und den Flanellpyjama an, zog ihr eigenes Nachthemd an, und dann krochen sie beide in das Ehebett. Der Regen trommelte auf das Dach, gleichmäßig und einschläfernd wie eine Melodie. Das Mädchen lag in ihrem Arm. Sie war jetzt kein Kind mehr, sie fühlte sich eher wie eine nahezu erwachsene Frau an. Mit der Zeit schien sie ruhiger zu werden, ab und an kamen noch ein paar Schluchzer und Zuckungen, sowohl bei ihr selbst als auch bei Christa.
    »Wo ist Papa jetzt?«, fragte sie plötzlich, geradewegs in die Dunkelheit hinein.
    »In einem Raum irgendwo im Krankenhaus.«
    »Glaubst du,

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